Ein muslimischer Blick auf zwei biblische Frauen

Sara und Hāǧar sind zwei Frauen, deren Geschichte in allen drei abrahamitischen Religionen eine wichtige Rolle spielt. Nachdem Hāǧar in forumKirche Nr. 05/2024 aus christlich-jüdischer Sicht dargestellt worden ist, beleuchtet Nadire Mustafi* die Bedeutung Hāǧars aus muslimischer Sicht. 

Aus islamischer Perspektive beginnt diese Geschichte bereits früher, nämlich während einer Reise Ibrāhīms (Abrahams) mit seiner Frau Sara. Hāǧar ist ein Geschenk an Sara und steht Sara und Ibrāhīm zunächst zu Diensten. Doch mit der Frage der Nachkommenschaft werden beide Frauen zu Ehefrauen des Propheten Ibrāhīm. Zwischen ihnen wird kein Unterschied gemacht. Islamisch betrachtet, rücken Hāǧar und ihr Sohn Ismāʿīl in den Vordergrund, da sie heute noch bei der islamischen Pilgerfahrt in Mekka sowie beim islamischen Opferfest eine wichtige Rolle einnehmen.

Eigenständig agierende Frauen
Betrachtet man die zwei zentralen Stellen im Koran, fällt auf, dass beide Frauen sehr eigenständig agieren. Als Ibrāhīm durch Engel die Geburt eines Sohnes verkündet wird, lacht Sara und kann aufgrund ihres hohen Alters diese Botschaft nicht nachvollziehen. Sie stellt diese Tatsache daher infrage und tritt ins Gespräch mit den Engeln. Diese erwidern ihr, dass es eine gottgewollte Sache sei und ihre Bitte nach Nachkommenschaft nun von Allah erfüllt werde. (Sure 11:71-73; 51:29-30)
Auch Hāǧar wird in der Wüste vom Erzengel Ǧibrīl (Gabriel) aufgesucht. Hāǧar sucht zwischen den beiden Hügeln As-Safā und al-Marwa verzweifelt nach Wasser, als sie plötzlich eine Stimme hört und neben ihrem Kind den Engel Ǧibrīl sieht. Dieser stampft mit seinem Fuss auf den Boden, sodass daraus der Süsswasserbrunnen Zamzam entsteht, der heute noch alle Pilger*innen in Mekka mit dem gesegneten Wasser versorgt.
Diese beiden Stellen spielen in mehrerlei Hinsicht eine bedeutende Rolle. Zunächst lässt sich festhalten, dass Gott den Menschen dialogisch und nicht hierarchisch anspricht. Da sowohl Sara wie Hāǧar Frauen sind, zeigt die Erzählung auch, dass für Gott das Geschlecht keine Rolle spielt.

Gott bietet Schutz, nicht die Männer
Ausserdem wenden sich die beiden Frauen in erster Linie direkt an Gott. Als Sara von einem tyrannischen Herrscher bedrängt wird, wendet sie sich im Gebet an Allah. Ebenfalls erbittet Hāǧar Hilfe vor dem Verdursten in der Wüste nicht von ihrem Ehemann Ibrāhīm, sondern allein von Gott. Sowohl Sara als auch Hāǧar werden hier nicht nur errettet, sondern gesegnet und auch beschenkt. Sara bekommt Hāǧar als Geschenk vom Tyrannen und später erblüht der Ort, wo Hāǧar und ihr Sohn Ismāʿīl sich niederlassen, zur lebendigen Stadt Mekka mitten in der Wüste. Zwar hat auch Ismāʿīl durch sein Bittgebet Anteil am Geschehen, dennoch sind es vor allem die Frauen, die aktiv werden: Sie verlassen die Opferrolle und werden zu handelnden Subjekten. Während Sara zuerst die Herrin ist und Hāǧar nur ihre Dienstmagd, wird Hāǧar durch die Ehe mit Ibrāhīm – modern gesprochen – gleichwertig. Ihr früherer sozialer Status spielt nun keine Rolle mehr.

Ein Glaube, der auch kritisch fragt
Neben der Aktivität der beiden Frauen erstaunt auch ihre hohe Rationalität, ohne diese gegen das Gottvertrauen aufwiegen zu wollen. Sara nimmt es nicht «einfach nur hin», dass sie ein Kind gebären wird, «nur weil» dies allein von Gott kommt. Sie unterzieht diese Verheissung auch einer rationalen «Überprüfung». Aufgrund ihres hohen Alters stellt sie diese Tatsache zunächst rational infrage, und erst in einem zweiten Schritt vertraut sie auf Allah, nämlich als ihr die Engel erklären, sie kämen mit dieser Botschaft von Gott.
Ebenso fragt Hāǧar rational orientiert ihren Gatten Ibrāhīm an, in wessen Obhut er denn sie und das Kind in der Wüste hinterlasse, wo doch keine Versorgung an diesem Ort gegeben sei und Ibrāhīm auch keine Vorkehrungen dafür getroffen habe. Erst als dieser Hāǧar antwortet, dass er sie in der Obhut Allahs zurücklasse, nimmt sie dies vertrauensvoll an. Trotzdem sucht sie aktiv nach Rettung und Wasser im Gebet, aber auch ganz tatkräftig am physischen Ort, wo sie zurückblieb. Heute noch ahmen Muslim*innen im Pilgerritual beim Haddsch nach Mekka Hāǧar nach, indem sie versuchen, zwischen den beiden Hügeln diese Suche nach Wasser nachzuerleben.

Nadire Mustafi/Red., 29.5.24

*Die Autorin leitet das Kompetenzzentrum für ethisches und interreligiöses Lernen in der Aus- und Weiterbildung von Lehrpersonen (KIAL) an der Pädagogischen Hochschule St. Gallen.

Das wichtigste islamische Heiligtum: die Kaaba in Mekka. Ganz in der Nähe befindet sich der Brunnen Zamzam.
Quelle: zVg
Das wichtigste islamische Heiligtum: die Kaaba in Mekka. Ganz in der Nähe befindet sich der Brunnen Zamzam.

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