Der Antisemitismus in der Welt steigt

Seit dem 27. Januar 1945, der Befreiung des KZ Auschwitz, heisst es weltweit « nie wieder ». Doch nach der Reaktion Israels auf den Überfall der Hamas am 7. Oktober 2023 steigt der Judenhass massiv, wie der Schweizer Antisemitismus­bericht zeigt. Betroffene erinnern sich an den Tag des Überfalls und berichten über ihre Erfahrungen.

Fragt man Betroffene nach ihren Erinnerungen an den 7. Oktober 2023, ist allen das Entsetzen und der Schock anzumerken. Tom, ein 63-jähriger Kinder­arzt, erfuhr davon aus den Social Media. Obwohl er versuchte, sich von den Bildern abzuschirmen, hatte er lange Schlafstörungen. Die 43-jährige Myriam erfuhr vom Massaker per SMS. Ihr Kind hatte Geburtstag, darum habe sie alles weggeschoben. « Nachts habe ich versucht herauszufinden, wie es meinen Freundinnen und Freunden in Israel geht. » Politikwissenschaftler David* war fassungs­los über die Brutalität des Massakers, und die 71-jährige NGO-Mitarbeiterin Anna* telefonierte mit Bekannten in Israel und las Medienberichte.

Hamas-Terror kommt nicht vor
Trotz 15 Jahren Auseinandersetzung mit der Verfolgung seiner Familie unter den Nazis berichtet Tom von Retraumatisie­rung. « Ich war überzeugt, ich könne mit jeder Art Gräuel umgehen. Jetzt weiss ich, dass es nicht stimmt. » Insbesondere die Reaktionen nach Israels Gegenschlag erstaunten ihn und seine nichtjüdische Frau. In Toms Umfeld – mehr­heitlich Ärzte und Menschenrechtler – war nur die Solidarität mit Gaza ein Thema. Der Hamas-Terror kam nicht vor.

In Myriams Familie war das Entsetzen gross. Stundenlang verfolgte sie die Nachrichten. « Wir versuchten, den Hass auf uns zu verstehen. » In ihrem Freundeskreis öffnete sich ein Graben zwischen den Betroffenen und « den anderen ». Letztere schwiegen oder beschuldigten Israel wegen seines Einsatzes in Gaza. Im Unternehmen, in dem Myriam als CEO tätig ist, wollte sie jüdischen Mitarbeitenden im internen Chat eine Kontaktmöglichkeit gegen die Isolation anbieten. Die Leitung lehnte ab: Man könne sie nicht vor möglichen Attacken schützen und müsse politisch neutral sein, hiess es. Falls bekannt würde, dass es jüdische Personen im Führungsteam gebe, könnten Kunden abspringen.

Anna erlebte entsetzt, dass Freundinnen und Freunde aus dem eher linken Umfeld, Frauenorganisationen und Kirchen, auf Abstand gingen. Selbst gewisse Personen aus Kirchenkreisen würden jetzt von « deinen Leuten » sprechen, wenn es um Israel gehe, sagt Anna. 80 Jahre nach der Befreiung des KZ Auschwitz werden Jüdinnen und Juden in Europa isoliert und attackiert. Die Zivilgesellschaften sind erschreckend still, auch die Kirchen. Anna erinnert an den Philosophen Ernst Bloch : « Ich spüre wie er, ‹ dass wir ungleichzeitig mit der Mehrheitsgesellschaft leben › . Für uns wurde die Vergangenheit unserer verfolgten Familien Gegenwart. »
Politikwissenschaftler David bemerkt bereits seit zehn Jahren einen wachsenden Antisemitismus, besonders in den Social Media. Zwei Tage nach dem Angriff der Hamas verteilte er in Zürich mit einer Gruppe Zettel mit Hinweisen auf das Massaker. Sie wurden dabei beschimpft, eine ältere Frau wurde gar von Passanten angespuckt. Tom erzählt von Attacken via Social Media, etwa einem Konzert-Bericht, der den Krieg in Gaza mit dem Holocaust gleichsetzt.

Wir werden wieder tanzen
Dem Zitat des Pianisten Igor Levit « Ich habe mich noch nie so jüdisch gefühlt » stimmen alle Befragten zu. Sie tun sich gegen die Einsamkeit zusammen. Tom ist in die jüdische Gemeinde eingetreten. Myriam begeht Feiertage mit Betroffenen. David trifft sich in einer Gruppe Jews Anonymous. Anna und Tom nehmen per Zoom an einer Gruppe teil. Alle engagieren sich gegen Hass. Anna gibt Workshops an Schulen zu Antisemitismus und David hält Vorträge über die Nazi-Verfolgung in seiner Familie. Myriam engagiert sich auch beruflich für Betroffene. Alle ermutigen sich gegenseitig in Erinnerung an die von der Hamas Ermordeten des Festivals im Oktober 2023 und sagen : « Wir werden wieder tanzen .»

Christiane Faschon, 8.1.25


Antisemitismus früher und heute
Am 27. Januar findet ein Workshop zum Thema Antisemitismus statt.
Workshop zum Thema :
Montag, 27. Januar, 19–21 Uhr
Zentrum Franziskus, Weinfelden 
Leitung : Christiane Faschon, Theologin /Journalistin, und Jean-Pierre Sitzler Theologe / Fachstellenleiter Kirchliche Erwachsenenbildung
Anmeldung bis 20. Januar unter www.keb.kath-tg.ch

Mahnwache
Quelle: Bernd Schwabe / Wikimedia Commons
Mahnwache gegen Antisemitismus in Hannover

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