«Als Künstlerin kann man sich dem Sakralen nicht entziehen»

«Unser Bildstöckli ist aus alten Fenstern gemacht, es erinnert an ein Gewächshaus», beschreibt die Künstlerin Fabienne Gähwiler (23) aus Oberkirch ihre Kunstinstallation. «Zuerst fällt die goldene Rettungsdecke an der Rückwand ins Auge, die je nach Sonnenstand unterschiedlich schimmert», fährt ihr Künstlerpartner Mario Gisler (25) fort. «Dann sieht man vielleicht die Pflanze, die am Boden wächst, und wenn man näher kommt die gläserne Kugel, die darüber hängt», ergänzt Gähwiler. 

Persönliche Geschichten

Die beiden Studierenden der Hochschule Luzern für Design und Kunst haben eines von vier zeitgenössischen Bildstöckli gestaltet, die derzeit entlang eines Wanderwegs stehen, der vom Kloster Fischingen zur Anhöhe Ottenegg führt. Anlass ist das 150-Jahr-Jubiläum der beiden Landeskirchen im Kanton Thurgau. «Bildstöckli sind ein wunderbares Format für persönliche Äusserungen zum Verhältnis von Religion und Gesellschaft», erläutert Projektleiter Reto Friedmann, der mit der Anfrage, moderne Bildstöckli zu gestalten, an die Hochschule Luzern gelangte. 
Eine solche persönliche Geschichte war für Gähwiler und Gisler die Entdeckung der Legende der heiligen Idda. Sie lebte im 13. Jahrhundert als Inklusin beim Kloster Fischingen. «Idda ist sehr präsent in dieser Region», sagt Gisler, der in Andermatt aufgewachsen ist, und erwähnt ihr Grab in der Klosterkirche und die Idda-Kapelle auf der Ottenegg. 
Das Künstlerpaar, das auch privat ein Paar ist, war fasziniert, dass Menschen heute noch zu Idda beten, wie das Gebetsbuch in der Kapelle zeige, etwa um von Beschwerden an den Füssen befreit zu werden. «Unser Bildstöckli ist eine künstlerische Umsetzung der Idda-Legende», so Gähwiler, und erwähnt die Pflanze, die innerhalb des Stöcklis in die Erde eingelassen ist: Es ist eine Wallwurz, auch Beinwell genannt, und soll gegen Schmerzen in den Beinen helfen. Damit werde das Stöckli selber ein Stück dieser Legende, «ein Teil dieses Kuchens», sagt Gisler mit Bezug auf den Titel ihrer Installation: «Kraft Kuchen». 

Wandlung und Veränderung 

Dass die Pflanze die Ausstellungsdauer vielleicht nicht überleben wird, ist Teil des Projekts: «Uns interessiert die Wandlung, die Veränderung», erklärt Gisler. Deshalb bestehe das Stöckli auch aus gebrauchten Objekten: Fensterscheiben, die Linse eines Hellraumprojektors, Rettungsdecke. «Diese Objekte werden in die Idda-Geschichte transformiert», sagt Fabienne Gähwiler. 
Veränderung ist auch Thema der Kunstinstallation von Marco Schmid: «Eine fast menschengrosse grüne Traube, die infolge der Einschränkungen wegen der Corona-Pandemie nur virtuell zu besichtigen ist, liegt am Boden. Ihr Stiel ist an einem Holzbalken befestigt, an dem sich Eisenhaken mit Einbuchtungen befinden, sodass die Traube geschultert werden kann», beschreibt Schmid (43) sein Objekt. «Die Trauben haben braune Pünktchen, sie zersetzen sich bereits.»

Thurgauer Kulturgut

Die Installation – beziehungsweise der Hinweis auf den QR-Code und die dazugehörige App – befindet sich an einer Wegkreuzung, «wie oft bei Bildstöckli», erläutert der Theologe aus Langenthal, der heute zum Team der Peterskapelle Luzern gehört. Die Installation mit dem Titel «Quo vadis» (Wohin gehst du) lade denn auch zum Wegtragen ein, so Schmid. Und sie reflektiere das Thema der Ausstellung: «Wohin führt das Verhältnis von Kirche und Staat?» Zur Traube gebe es viele biblische Bezüge, ebenso sei sie im Kanton Thurgau ein wichtiges Kulturgut, so Schmid und erwähnt den Weisswein Müller-Thurgau.

Kommunikation durch Bilder

«Bildende Kunst ist Kommunikation durch das Bild. Die katholische Kirche hat eine lange Tradition darin. Wie kann sie heute mittels Bildern kommunizieren?», erläutert der Theologe sein persönliches Interesse am Thema. Es gehe in der Kunst wie in der Theologie um existenzielle Themen: Zerfall, Wandlung, Fruchtbarkeit. Schmid ist überzeugt, dass «die grossen Fragen des Lebens im Kern religiöse Fragen sind. 
Gar so weit gehen Gisler und Gähwiler nicht. Doch auch für sie, die sich keiner Religion zugehörig fühlen, ist «Religion einfach da, ob man sich dazu bekennt oder nicht», sagt Mario Gisler. «Als Künstlerin kann man sich dem Sakralen nicht entziehen», pflichtet seine Partnerin ihm bei. Denn auch bei der Kunst gehe es um die Schöpferkraft. 
Alle drei erhoffen sich, dass die Bildstöckli bei den Betrachtenden Neugier auslösen, Fragen aufwerfen, Austausch anregen. «Und dann nehmen wir es wieder mit», sagt Gisler schlicht, «und damit verändert es sich erneut.»

Sylvia Stam, Pfarreiblatt Luzern/Red. (4.8.2020)

Dieser Beitrag erschien erstmals im Kantonalen Pfarreiblatt Luzern.
 

Haben zwei der Bildstöckli gestaltet, die in Fischingen zu sehen sind: Marco Schmid, Fabienne Gähwiler, Mario Gisler
Quelle: © Sylvia Stam
Haben zwei der Bildstöckli gestaltet, die in Fischingen zu sehen sind: Marco Schmid, Fabienne Gähwiler, Mario Gisler

 

Das Bildstöckli «Kraft Kuchen» von Fabienne Gähwiler und Mario Gisler
Quelle: © Sylvia Stam
Das Bildstöckli «Kraft Kuchen» von Fabienne Gähwiler und Mario Gisler

 

 

 

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