Zeit für Selbsterkenntnis

Pfarrerin Cathrin Legler hat die Tage vom 10. bis 17. Mai als Inklusin in der Wiborada-Zelle in St. Gallen verbracht. Ausser den zwei Stunden Gesprächen pro Tag am Fenster und bei der Übergabe des Mittagessens hatte sie keinen Kontakt.

«Ich würde es wieder tun, aber es bleibt ein einmaliges Erlebnis», sagt Cathrin Legler. Die reformierte Pfarrerin aus Kreuzlingen hat ihre sieben Tage auf den Spuren der Heiligen aus dem 10. Jahrhundert genossen. «Mein Respekt für sie ist dabei noch gewachsen. Sie hatte sich schliesslich unter weit härteren Bedingungen als ich für ein Leben als Inklusin entschieden und das zehn Jahre bis zu ihrem Tod durchgehalten. Ich verstehe aber nun auch viel besser, was sie motiviert hat, wie sie Freiheit und inneren Reichtum gewonnen hat.»

Freiheit in Abgeschlossenheit
Von der Welt abgeschlossen zu sein, bot Cathrin Legler Raum zu Reflexion und Selbsterkenntnis. «Zum ersten Mal seit Kindertagen hatte ich keine Aufgaben, die dringend zu erledigen waren. Das ist mir in den ersten zwei Tagen bewusst geworden. Ich hatte auf einmal Zeit für mich.» Ganz beschäftigungslos war die Inklusin jedoch nicht. Täglich stand sie am Fenster ihrer Zelle mittags und abends für je eine Stunde für Gespräche zur Verfügung. 15 bis 19 Begegnungen mit Ratsuchenden oder Interessierten pro Tag kamen so zustande. Ausserdem wurde sie von Schulklassen besucht. «Es war interessant, was die Kleinen wissen wollten: Was machst du den ganzen Tag? Vermisst du deinen Mann und deine Kinder nicht?» Cathrin Legler muss lachen: «Natürlich habe ich sie vermisst, allerdings nicht den Trubel, den eine fünfköpfige Familie mit sich bringt.» Unter anderem die Haushaltsarbeit blieb der Wiborada-Nachfolgerin auf Zeit erspart: Täglich brachten Freiwillige ein Mittagessen in die Zelle. «Ich habe mich dadurch gut aufgehoben gefühlt. Die Gemeinschaft hat mich getragen.»

Zeit zum Nachdenken
Allen Teilnehmenden des Wiborada-Projekts wird empfohlen, in der Zelle eine handwerkliche Tätigkeit auszuüben. Cathrin Legler begann zu stricken. «Der Pullover ist gut gediehen», lacht sie. Um ihren Kreislauf in Schwung zu halten, lief sie in der zwölf Quadratmeter kleinen Zelle auf der Stelle und machte Yoga- oder Pilates-Übungen. Viel entscheidender als ihr körperliches war ihr seelisches Wohlbefinden. «Es ist eine absolute Reduktion – keine Nachrichten, kein Mobiltelefon, kein Schwatz mit Nachbarn oder Kollegen –, trotzdem habe ich Fülle empfunden. Die Gedanken im Kopf laufen ja weiter. Da passiert viel.» Die freie Zeit nutzte die Pfarrerin für ein erneutes Bibelstudium. «Ich habe mich auf das Lukas-Evangelium konzentriert, dazu meditiert, Passagen daraus laut vorgelesen und sie abgeschrieben, um sie mir anzueignen. Ich musste lächeln, als ich erkannte, dass im antiken Text viele Antworten auf meine aktuellen Fragen zu finden waren.»
Am Freitag zog die 49-Jährige aus der Zelle aus, am Samstag hatte der Alltag sie wieder. «Mich mit meinen Söhnen ins Einkaufsgetümmel zu stürzen, war wirklich ein Härtetest», meint sie.

Inka Grabowsky, 11.6.24
 

Cathrin Legler
Quelle: zVg
Hat in der Wiborada-Zelle Fülle empfunden trotz absoluter Reduktion: die reformierte Pfarrerin Cathrin Legler aus Kreuzlingen

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