Das Engagement von Marcus Pohl in Indien
An der letzten Synode in Schaffhausen (forumKirche 14/2020) stellte der 48-jährige Marcus Pohl die von ihm mitbegründete St. Josef-Schule in Kalkutta vor. Seit 24 Jahren engagiert sich der fünffache Vater, der als Krankenpfleger in der Altersstiftung Schönbühl in Schaffhausen tätig ist, für die Ärmsten der Armen. Für sein unermüdliches und langjähriges Engagement wurde der gebürtige Orsinger (D) 2019 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Angefangen hatte alles mit einem Praktikum bei Mutter Teresa, erzählt der Sozialpädagoge im Interview.
Warum sind Sie als junger Mann Mitte der 90er-Jahren das erste Mal nach Indien gereist?Ich komme aus einer christlichen Familie und meine Eltern haben mir schon früh von Mutter Teresa und ihrer Arbeit in Indien erzählt. Das bestärkte mich in meinem Entschluss, unbedingt dorthin zu reisen. Im Zuge meines Sozialpädagogik-Studiums durfte ich ein dreimonatiges Praktikum im Ausland machen. Dieses habe ich dann in einem von Mutter Teresa betreuten Sterbehaus und in einer Leprastation gemacht.
Insgesamt haben sie dann aber 15 Monate lang bei Mutter Teresa gearbeitet. Wie haben Sie die Arbeit erlebt?Das Sterbehospiz hatte 110 Patienten, Männer, Frauen und Kinder verschiedenen Alters, die meisten stark abgemagert. Täglich hatten wir im Schnitt acht Todesfälle. Ich habe auch ein Kind beim Sterben begleitet. Es war eine sehr intensive, zu Herzen gehende Zeit mit vielen Tränen. Noch nie zuvor hatte ich eine solche Armut gesehen. In Kalkutta leben Millionen Menschen auf der Strasse, in elendigen Hütten oder Zeltplanen. Das war für mich das einschneidenste Erlebnis in meinem ganzen Leben, aber gleichzeitig auch das sinnstiftendste.
Sie haben Mutter Teresa noch persönlich kennengelernt. Wie war diese Erfahrung?Ich hatte es mir anfangs komplizierter vorgestellt, mit ihr zu sprechen. Doch ich klopfte einfach beim Mutterhaus an, bat um ein Gespräch und dann kam sie zu mir. In der Zeit, die ich dort verbrachte, habe ich mich insgesamt 19 Mal mit ihr getroffen. Sie brachte mir bei, dass der Mensch, der vor dir steht, der wichtigste Mensch ist, den Gott dir in diesem Moment gesendet hat. Ich habe sie gefragt, wem ich helfen soll, weil es so viele arme Menschen gibt. Und sie antwortete: «Deinem Nächsten, dem du begegnest». Eine ganz einfache Wahrheit.
1996 haben Sie dann in Kalkutta die St. Josef-Schule gegründet. Wie kam es dazu?Für mich war immer klar, dass man nur über die Bildung dem Teufelskreis der Armut entkommen kann. 1996 kam ich in Kalkutta in Kontakt mit der Lehrerin Veronica Jose. Mit ihr zusammen gründete ich in einem Wohnhaus eine Nähschule für elf Mädchen am Rande des Slums in Howrah-Pilkhana, Mit den Jahren ist das Projekt gewachsen, 2003 gründeten wir eine Grundschule, später auch eine Mittelschule. Mittlerweile unterrichten wir 217 Kinder gratis und begleiten sie vom Vorschulalter bis zur abgeschlossenen Berufsausbildung. Wir haben insgesamt 20 Angestellte, 13 davon Lehrer.
Sie unterstützen auch die Familien der Kinder…Genau. Die Familien könnten ihre Kinder nicht zur Schule schicken, wenn wir ihnen nicht ein wöchentliches Lebensmittelpaket zur Verfügung stellen würden. Die Kinder müssten sonst arbeiten oder betteln, um einen Teil des Familienbedarfs zu verdienen. Aktuell unterstützen wir aber deutlich mehr als die 172 Familien unserer Schulkinder.
Weil die Not durch Corona noch grösser geworden ist?Ja. Millionen Menschen sind vom Hungertod bedroht und haben ihre Arbeit verloren. Die Zahl der Fälle steigt massiv an, mittlerweile sind schon drei Millionen erkrankt und jeden Tag kommen 80'000 Infizierte dazu. Die Dunkelziffer ist viel höher, weil viele einen Test gar nicht bezahlen können. In Westbengalen gab es zudem am 20. Mai einen schweren Zyklon, der 110'000 Häuser komplett zerstörte und Kalkutta überflutete. Durch die offene Kanalisation drängte alles in die Hütten hinein, was vermehrt zu Krankheiten führte. Es geht ums nackte Überleben und auch um das Überleben unserer Schulkinder.
Wie gehen Sie selbst mit der Situation um?Mich belastet es sehr, dass gewisse Menschen tatsächlich sterben werden, weil ich sie nicht direkt unterstützen kann. Die Verzweiflung dort ist enorm gross und ich hoffe sehr, dass ich bald vor Ort sein kann, um zu helfen. Der christliche Glaube ist dabei meine Quelle, aus der ich Kraft ziehe.
Interview: Sarah Stutte, forumKirche, 1.9.20
Finanzielle Unterstützung
Die St. Josef-Schule in Kalkutta wird komplett aus Spenden finanziert. Das Projekt wurde nicht nur von der Landeskirche Schaffhausen mit einem einmaligen Beitrag unterstützt, sondern seit 2019 in einer dreijährigen Kooperation auch vom Pastoralraum Schaffhausen-Reiat. Das Ziel in den nächsten Jahren ist es, durch den Profit einer künftigen Schneiderwerkstatt und eines eigenen Modelabels in Kalkutta, die St. Josef- Schule spendenunabhängiger zu führen. www.calcutta-schule.de
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