Eindrücke eines Heimkehrers

2014 ist Andreas Hugentobler (39) mit seiner Frau Betsaida (38) nach El Salvador ausgewandert, um dort beim Aufbau eines Netzwerks von Basisgemeinden mitzuwirken. Mitte Mai kehrten die beiden mit ihren Kindern Paula (8) und Santiago (4) in die Schweiz zurück. Seit 15. Juni arbeitet der Thurgauer Theologe bei Fastenaktion. In einem Interview blickt er auf sein Wirken zurück und erzählt, wie er mit seiner Familie in der Schweiz angekommen ist. 

Wo es keine organisierte Kirche gibt, übernehmen Basisgemeinden die Sorge um das Wohl der Ärmsten. 1969 wurden sie in Lateinamerika als offizieller Ausdruck der katholischen Kirche anerkannt. Ihr Ziel ist es, einen befreienden Glauben zu verbreiten, der die Ursachen von Unrecht anklagt und verändert. Andreas Hugentobler half mit, ein eigenständiges Netzwerk von Basisgemeinden im Departement La Libertad aufzubauen, das sich 2019 schliesslich zur Basisgemeindevereinigung Oscar Romero (ACOBAMOR) zusammenschloss (vgl. forumKirche 04/2020, S. 6). Im letzten Jahr begann die Vereinigung mit dem Aufbau eines Cafés, das Jugendlichen Arbeitsplätze bietet und heimische Produkte vertreibt (vgl. s. 10). Während seines achtjährigen Aufenthaltes wurde er finanziell von Fidei Donum, einer Einrichtung für weltkirchlichen Austausch der Schweizer Bischofskonferenz, sowie vom Bistum Basel unterstützt. 

El Salvador ist ein sehr armes und gefährliches Land. Was hat dich 2014 bewogen, zusammen mit deiner Frau dorthin auszuwandern?
Zum einen habe ich vor meinem Studium schon ein halbes Jahr in Peru gelebt. Dort habe ich erlebt, wie sehr in Lateinamerika Ungerechtigkeiten zutage treten. Nachdem ich in der Schweiz in der Pastoral gearbeitet hatte, habe ich es 2014 gebraucht, mich wieder dieser Realität zu stellen und zu schauen, wie das Evangelium hilft, in diesen Spannungen das Leben zu gestalten. Zum anderen wollten meine Frau Betsaida und ich wieder zurück nach El Salvador. Sie ist Salvadorianerin. Wir hatten uns in meiner zweijährigen Studienzeit in San Salvador kennengelernt.

Haben sich deine Vorstellungen und Träume von damals erfüllt?
Ja, ganz sicher. Unser Wunsch war es, mit Basisgruppen, mit ganz einfachen Menschen unterwegs zu sein und mitzuerleben, wie der Glaube wirksam werden kann, das Leben zu verbessern. Über die Jahre hat es sich so ergeben, dass wir Zugang zu sechs Dorfgemeinschaften gefunden haben. Da sind einige Freundschaften gewachsen. Wir haben begonnen, miteinander kreativ zu werden, zum Beispiel mit biblischen Texten, mit liturgischen Feiern, aber auch in ganz säkularen Angelegenheiten. Beim Anbau verschiedener Maissorten haben wir viel gelernt. Und in allem haben wir erleben dürfen, dass ein kollektiver Geist zu einem besseren Leben führt. Das hat sich für mich alles erfüllt. 

Hast du dort auch Tiefpunkte erlebt?
Ja, einen klaren Tiefpunkt erlebte ich 2018, als ich von der damaligen Träger-Organisation entlassen wurde. Unsere Basisarbeit und Ermächtigung der Menschen hatte die Hierarchie infrage gestellt, die auch in der NGO herrschte. Für uns stellte sich die Frage: Stehen wir hinter diesem Weg, den wir begonnen hatten, oder geben wir klein bei? Das sind 500 Jahre Kolonialgeschichte in Lateinamerika. Die Schwächsten haben jahrhundertelang erlebt, dass andere für sie entscheiden, dass Wissen und Veränderungen «von aussen» kommen. Wir haben uns entschieden, mit diesen Menschen unterwegs zu sein und das kollektive Selbstbewusstsein zu stärken, auch wenn wir nicht mehr zur NGO gehören.
Ein Tiefpunkt führt oft zu einem Höhepunkt: Zwei Monate später hat sich das ganze Basisgemeinde-Netz, das von der NGO begleitet worden ist, entschieden, sich von der Organisation abzuwenden und eine eigene Organisation zu gründen. Ein 70-jähriger Leader sagte: «Wir möchten nicht behandelt werden wie von den Politikern, die nur kommen, um Fotos zu machen, aber sich nicht für uns interessieren. Wir möchten den Weg gemeinsam mit Menschen gehen, die uns begleiten.» Das hat uns sehr motiviert. Wir sind nochmals vier Jahre geblieben.

Ihr seid ja die ganzen Jahre finanziell unterstützt worden…
Ja, Fidei Donum hat uns all die Jahre den Lebensunterhalt finanziert. Das ist ein grosses Privileg. Der Grundlohn hat uns die Freiheit gegeben, gute Arbeit zu leisten. 

Du hast acht Jahre lang Aufbauarbeit geleistet. Was hast du dort zusammen mit anderen erreicht?
Zum einen haben wir einen Generationenwechsel bewirkt. Normalerweise sagen die Älteren immer, wo es langgeht. Es ist uns gelungen, einen Raum zu schaffen, wo junge Menschen ihre Andersartigkeit und Kreativität leben können. Über die Jahre wurde zunehmend erkannt, dass dadurch viel Know-how einfliesst und gute Ideen entstehen.
Der zweite Punkt betrifft die Bildungsarbeit. Auch auf der kirchlichen Ebene sind die Menschen sehr traditionell und obrigkeitshörig. Aber inzwischen gibt es viele Laien im Basisgemeinde-Netz, die sich als Kirche verstehen, sodass nicht mehr alles über die häufig klerikal dominierten Pfarreien geschehen muss. Frauen und Männer verschiedenen Alters haben ihre Identität gefunden als kirchliche Gemeinschaft, als soziale und politische Plattform, von der aus sie sich für Veränderungen einsetzen. 50 bis 60 Prozent dieser Menschen sind mutiger geworden, nehmen durchaus auch gegenüber Autoritäten eine kritische Haltung ein.

El Salvador ist ein instabiles Land mit viel Gewalt. Wurde es für dich und deine Familie einmal gefährlich?
Wir sind nie physisch angegriffen worden. Gefährlich war es vor allem auf den Strassen, wenn wir mit dem Velo unterwegs waren (lacht). 
Reale Gefahr geht vor allem von den kleinkriminellen Jugendbanden (Maras) aus. Die Basisgemeinden sind auch von diesen Banden kontrolliert, weil sie in deren Territorien liegen. Doch man kann dieser Gefahr begegnen, wenn man den vorgegebenen Code einhält: Man muss die Mitglieder als Menschen achten, immer auch zu verstehen versuchen, dass sie Opfer einer grösseren Gewaltspirale sind. 
Gefährlich wurde es auch, als wir als Organisation begonnen haben, politisch Stellung zu beziehen - z. B. zu Menschenrechtsverletzungen - oder Massaker anzuklagen. Zweimal gab es Schiessereien in den Dörfern. Da mussten wir mit der Menschenrechts-Ombudsstelle gut abklären, wie wir uns dazu äussern. Wir waren immer sekundiert von Personen, die uns unterstützt haben. Meine Frau und ich standen dabei eher an zweiter, begleitender Stelle. Zuerst haben die Einheimischen etwas gesagt. 

Wie hat dich das Leben in El Salvador persönlich geprägt und verändert?
Ich bin in der Erwachsenenbildung und in der Jugendarbeit viel kreativer und erfinderischer geworden. Ich habe die ganzen acht Jahre in einem guten Sinn als «Spiel» empfunden. Wir haben viele Dinge ausprobiert, versucht neue Zugänge zu schaffen. Wir sind dabei ganz einfach vorgegangen: Wir haben etwas gemacht, es gemeinsam ausgewertet und dann weitergemacht. Dieses Learning-by-doing hat uns sehr geholfen. Es brachte auch eine gewisse Leichtigkeit in unseren Alltag. 
Dennoch macht die Basisarbeit auch physisch müde und hat uns die letzten Jahre viel Kraft gekostet. Deshalb ist es jetzt wichtig, uns wieder mehr Zeit für unsere Gemeinschaft in der Familie, aber auch für uns persönlich zu gönnen.

Mit welchem Gefühl hast du Abschied genommen?
Zum einen war ich enttäuscht, dass wir den Verlauf des Projektes nicht selber mitbestimmen konnten, sondern uns das Ende von Fidei Donum vorgegeben wurde. Das passt nicht in den Kontext von Synodalität und Mitbestimmung. Ich tat mich auch schwer, dies den Menschen vor Ort zu vermitteln. Es hat ein halbes Jahr gebraucht, bis ich es akzeptieren konnte. Ich habe mir gesagt, dass die Kirche eben hierarchisch ist, und habe mich der Entscheidung gebeugt. Dies ist auch eine spirituelle Herausforderung. Für uns als Familie hat es ja auch gute Seiten. 

Wie nimmst du mit deinen Erfahrungen das Leben hier in der Schweiz wahr? Was bewegt dich am meisten?
Ich nehme die Deutschschweiz als sehr strukturiert war. Es braucht überall Budgets und Verantwortlichkeiten, sonst geht gar nichts. Das hat durchaus seine Berechtigung. Aber um etwas zu bewegen, braucht es auch Energie und viel Kreativität. Das steht in einer gewissen Spannung. Ausserdem finde ich es interessant, dass die ökologische Transformation in der Schweiz auch spirituell begründet, der ökologische Fussabdruck und der anstehende Wandel sehr ernst genommen werden. Viele junge Menschen setzen sich politisch dafür ein, haben es geschafft, dieses Thema ins Blickfeld zu rücken. Das ist total cool. In diesem Bereich möchte ich mich gern einbringen, möchte dazu beitragen, die Welt kreativ und solidarisch umzugestalten. 

Gibt es in El Salvador keine Aktivitäten für die Umwelt?
Doch, aber auf einer anderen Ebene. Unsere Arbeit ist auf den Bereich Agrarökologie begrenzt. Politisch läuft zu wenig, weil es nicht mehrheitsfähig ist. Man schafft auf kleinen Inseln eine heile Welt, vernetzt sich mit anderen Akteuren und hofft, dass dies irgendwann auch politisch Gehör findet.

Du hast bei Fastenaktion begonnen. Welche Aufgabe hast du dort?
Als Fachverantwortlicher Sensibilisierung Kirche habe ich die kirchliche Basis im Blick. Dazu gehören Jugend- und Erwachsenenverbände, Institutionen wie Justitia et Pax oder private kirchliche Gruppen. Es geht darum, die Themen des globalen Südens auch über die Kampagne-Zeit hinaus bekannter zu machen, Menschen für die Problematiken zu sensibilisieren und ihnen Mut zu machen, auch politisch Stellung zu beziehen - gerade bei Menschenrechtsfragen. Nur so kann man den Ärmsten Hoffnung geben, die unter diesem System leiden. 

Kann der christliche Glaube etwas zu einer besseren Welt beitragen?
Ja, sehr wohl. Dem Umfeld Jesu ist es immer darum gegangen, die Schwachen und Bedrängten ins Zentrum zu rücken und aus ihren Perspektiven und Lebenserfahrungen zu lernen. Es ging nicht um die Institution oder das Ritual. Der Glaube bietet die Möglichkeit, auf die Schwächsten zu hören, Gerechtigkeit einzufordern, solidarisch zu sein. Er fordert heraus, auf die leisen und lauten Schreie der Menschen zu hören, die durch die grossen Übel wie Umweltzerstörung, Genderdiskriminierung, Kapitalismus-Konsumismus oder Migration ausgelöst werden, und zu differenzieren, wo Menschen bereit sind, aufgrund dieser Ursachen etwas zu ändern. Das gibt Hoffnung, das ist Auferstehung. 

Welchen Kontakt hast du noch zu den Menschen in El Salvador?
Mit dem Team von ACOBAMOR habe ich ein Coaching vereinbart. Wir haben alle zwei Wochen ein einstündiges Online-Treffen, bei dem Anliegen besprochen werden. Dieses wurde anfangs stark genutzt, inzwischen hat sich der Rhythmus verlangsamt. Ausserdem wollen wir weiterhin etwas zur Finanzierung beitragen. Denn die Menschen, die bei ACOBAMOR arbeiten, müssen gerecht entlohnt werden. Wir werden in der Schweiz nach Gruppen Ausschau halten, die das Projekt finanziell unterstützen, aber auch inhaltlich von der Basiskirche lernen wollen. 

Und private Kontakte?
Die sind zahlreich. Neben Freundschaften gibt es viele Verbindungen zur grossen Familie meiner Frau. Die jüngste Tante meiner Kinder ist noch sehr jung. Sie ist die beste Freundin unserer Tochter. Der Kontakt zu ihr ist wichtig, da sich unsere Kinder hier erst noch integrieren und Kontakte finden müssen. 

Kannst du dir vorstellen, dass du einmal nach El Salvador zurückkehrst oder in einem anderen Entwicklungsland leben wirst?
Das kann ich mir gut vorstellen. Ich weiss aber, dass wir als Familie momentan mehr Stabilität brauchen. Das wird sich in nächster Zeit nicht ändern.
Ich bin gespannt, wie es mir in der Schweiz gehen wird. Da ich das Leben und die Arbeit in El Salvador sehr sinnvoll erlebt habe, kann ich mir gut vorstellen, einmal dorthin zurückzukehren oder auch in ein anderes Land zu gehen. Bevor wir in die Schweiz gekommen sind, haben wir eine Zwischenstation in Kolumbien gemacht. Es ist eindrücklich zu sehen, dass ganz viele Türen aufgehen, wenn man an die Basis geht und bereit ist, einfach zu leben. Dann erlebst du auf einmal Menschlichkeit, Nähe und Wärme, aber auch Sinnhaftigkeit. Da kannst du Dinge verändern. Das ist eine dankbare Aufgabe. 
 

Interview: Detlef Kissner, forumKirche, 07.07.2022
 


■ Nähere Infos auf www.ecosdelpulgarcito.wordpress.com/

Andreas Hugentobler mit seiner Frau Betsaida und den beiden Kindern
Quelle: zVg
Andreas Hugentobler mit seiner Frau Betsaida und den beiden Kindern

 

 

Andreas Hugentobler bei einer Andacht
Quelle: zVg
Andreas Hugentobler leitet eine monatlich stattfindende Bildungsveranstaltung für die Freiwilligen aus den Basisgemeinden.

 

Teamsitzung von ACOBAMOR
Quelle: zVg
Teamsitzung von ACOBAMOR

 

Kurs zur Herstellung von Einmachgemüse, Sacazil
Quelle: zVg
Kurs zur Herstellung von Einmachgemüse, Sacazil

 

Kurstag zur Herstellung von Biodünger „Bocashi“, El Triunfo
Quelle: zVg
Kurstag zur Herstellung von Biodünger „Bocashi“, El Triunfo

 

Jugendliche aus Jardines de Colón backen Hamburger-Brote fürs Café Entre Bambú.
Quelle: zVg
Jugendliche aus Jardines de Colón backen Hamburger-Brote fürs Café Entre Bambú.

 

Vivero-Café
Quelle: zVg
Vivero-Café während der Eröffnungswoche, Dezember 2021

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