Einblicke in zwei Religionsgemeinschaften

Die Woche der Religionen, die vom 5. bis 13. November stattfindet, bietet in der ganzen Schweiz Gelegenheiten, andere Religionen kennenzulernen und mit deren Vertreter*innen ins Gespräch zu kommen. In diesem Rahmen lädt der Interreligiöse Arbeitskreis im Kanton Thurgau zu Begegnungen mit Mitgliedern zweier kleiner Religionsgemeinschaften ein, dem Cantinho da Vovó Catarina, einer Gemeinschaft der Umbanda-Religion, und der Bahá'i-Gemeinde. Der folgende Beitrag gewährt Einblicke in deren Glauben und Vorstellungen.

Cantinho da Vovó Catarina bedeutet «Stübli der Grossmutter Catarina» auf Portugiesisch. So nennt sich die jüngste Religionsgemeinschaft im Interreligiösen Arbeitskreis im Kanton Thurgau. Sie gehört zur Umbanda. Das ist eine monotheistische, synkretistische, mystisch-spirituelle Religion. Ins Leben gerufen wurde sie am 15. November 1908 in Brasilien. Sie vereint Elemente afrikanischer und indigener Religiosität sowie des Volkskatholizismus. Ebenso enthält sie östlichen Spiritismus und kabbalistische Elemente. Ziel ist der Weg zu Gott. Umbanda folgt den Lehren der spirituellen Wesen des Lichtes. Grösster Meister des Lichtes ist Oxalá – Jesus Christus. Die Naturelemente – zum Beispiel Meere, Wälder, Berge – werden als energetische Schwingungen der Orixás angesehen und als deren Kraftorte verehrt. Orixás sind energetische Schwingungen, die zusammen die Schöpfung bilden. Und Letztere ist die unverrückbare Realität Gottes. Umbanda lehrt zu lieben, zu respektieren, nicht zu beurteilen, nicht zu verleumden und immer in Wahrheit zu handeln.

Magna Charta
Delene Schätti (58) ist seit 2002 geweihte Umbanda-Priesterin. Sie wurde im brasilianischen São Paulo geboren und kam mit elf Jahren ins Toggenburg. «Es war ein längerer Prozess, bis ich Ja sagen konnte zur Verantwortung als Priesterin. Ich habe erst 2016 meine Türen aufgemacht», erzählt sie. Bis zum Jahr 2015 gab es keine schriftliche Grundlage für Umbanda. Dann wurde die sogenannte Magna Charta der Umbanda-Religion offiziell als Dokument herausgegeben. Sie enthält Regeln, Pflichten und Gesetze und möchte religiöse Identität stiften. Der 15. November gilt seither in Brasilien als nationaler Tag der Umbanda. Für Schätti ist die Magna Charta ganz wichtig: «Ich gebe sie den Leuten in die Hand, damit sie sich informieren können. Denn es kursieren Gerüchte, Umbanda sei schwarze Magie. Dabei kann man nicht böse sein, wenn man sich in dieser Religion geborgen fühlt.» Sie folge immer der Ethik und Moral sowie dem Gesetz des Karmas, dem Prinzip der Ursache und Wirkung. Die Religions-, Gedanken- und Gewissensfreiheit wird stark betont – in der Magna Charta wird auf das Einhalten der Menschenrechte verwiesen. Das Dokument wird alle vier Jahre überarbeitet und basiert auf einem breiten Konsens. 

Leben als Lehrgang
Schätti musste sich als junge Frau von der streng katholischen Erziehung nach dem Sünde-Strafe-Schema lösen. Schon als Kind war sie hellsichtig, konnte das aber nicht einordnen. Es machte ihr Angst. Aufgrund prägender Ereignisse in ihrem Leben begab sie sich auf die Suche nach der Religion, die für sie stimmte – und fand zu Umbanda. «Mit Umbanda übe ich Selbstreflexion. Ich habe meine Sonnen- und Schattenseiten kennengelernt und verstanden, wozu sie dienen. Und ich habe sie lieben gelernt – wie Kinder.» Das mache sie demütig und dankbar gegenüber dem, was ihr das Leben biete.
Mittlerweile ist aus der kleinen Gemeinschaft ein Verein geworden. Zentral ist das Ritual. «24 Stunden vor dem Ritual gibt es keinen Sex, kein Fleisch, keine Drogen, keinen Alkohol. Stattdessen eine äussere und innere Reinigung, zum Beispiel mit Kräutern. Und es wird hauptsächlich weisse Kleidung getragen. Die Idee dahinter ist, rein am Ritual teilzunehmen», erklärt die Priesterin. Während eines solchen Rituals inkorporieren Medien jeweils einen Meister (Geistwesen des Lichtes), wodurch den Einzelnen oder auch der ganzen Gruppe Anweisungen, Informationen oder Trost übermittelt werden. Daneben werden auch Gebete gesungen, die mit Trommeln begleitet werden. Delene Schätti wirkt während des Rituals als Lehrmeisterin und sorgt dafür, dass sich keine ungewollten Energien einmischen. 
Auch wenn die Liturgie in jedem Umbanda-Tempel (Terreiro) unterschiedlich ist, findet sich in jedem ein Platz, der den Kindern, Alten/Weisen und den Indigenen/Urvölkern zugedacht ist. Damit verweist Umbanda auf ihre Ursprünge, die nicht verleugnet werden dürfen. Ergänzend fügt Schätti an: «Basis der Umbanda ist die Wiedergeburt. Umbandist*innen übernehmen dank ihrer spirituellen Entwicklung die Verantwortung für ihr Leben. So erhalten sie das Urvertrauen, dass wir alle spirituelle Wesen sind, die auf Erden einen Lehrgang mit Prüfungen durchlaufen.»


 

Die Weltreligon der Bahá'í
Das Bahá'ítum ist eine weltweite Religion, die sich an alle Menschen wendet. Im Mittelpunkt steht ein Schöpfergott, der sich dem menschlichen Verstand entzieht. Er ist allwissend und Ursprung der Liebe. Die Bahá'í -Religion geht davon aus, dass alle Menschen dieser Erde eine Einheit bilden, und ruft die Angehörigen unterschiedlicher Religionen, Ethnien und Nationen dazu auf, einander als Mitglieder einer vielfältigen Menschheitsfamilie zu begegnen.
Die Wurzeln dieser Religion reichen ins 19. Jahrhundert zurück. Sie entwickelte sich 1844 aus einer religiösen Bewegung im Iran heraus, die sich vom muslimischen Umfeld absetzte und den Anbruch eines neuen Zeitalters proklamierte. Gestiftet wurde sie von Bahá’u’lláh (deutsch: «Herrlichkeit Gottes», 1817–1892), der in Gefangenschaft erstmals göttliche Offenbarungen empfing und sich als Bote Gottes verstand. Seine umfangreichen Schriften bilden die Grundlage der Bahá'í-Gemeinschaft. Als wichtigster Text gilt der 1883 abgeschlossene Kitab-i-Aqdas (Heiligstes Buch), in dem wesentliche Gesetze und Prinzipien des Bahá'í-Glaubens festgehalten sind. 

Wiederkehrende Offenbarung
Nach Bahá’u’lláhs Tod leitete - testamentarisch bestimmt - dessen ältester Sohn ʿAbdul-Bahá (1844–1921) die junge Gemeinschaft, danach ʿAbdul-Bahás Enkel Shoghi Effendi (1897–1957). Unter Shoghi Effendis Führung verbreitete sich das Bahá'ítum weltweit. Ausserdem setzte er sich für die Gestaltung der Heiligen Stätten und des Weltzentrums der Bahá'í in Haifa und Akkon ein. Nach seinem Tod ging die Leitung der Gemeinschaft an ein Gremium über, das alle fünf Jahre neu gewählt wird. 
Das Bahá'ítum geht im Unterschied zum Christentum davon aus, dass sich Gott im Lauf der Geschichte immer wieder offenbart und zwar durch auserwählte Personen. Die Stifter der Weltreligionen wie Mose, Krishna, Siddhartha Gautama, Jesus Christus und Mohammed werden alle als Manifestationen des einen Gottes angesehen. Sie verkündeten ewige göttliche Wahrheiten und Botschaften, die dem spirituellen Entwicklungsstand der jeweiligen Zeit angepasst waren. Die Aufgabe von Religion ist es, die Menschheit zu einem friedlichen Miteinander zu führen. Konflikte im Namen von Religionen stellen für die Bahá'í einen Selbstwiderspruch dar. 

Botschaft der Einheit
In der Schweiz bekennen sich etwas mehr als 1'000 Personen zum Bahá'ítum. Mark Kilchmann aus Romanshorn ist einer von ihnen. Er wuchs katholisch auf, erlebte es aber schon früh als Diskrepanz, dass die Natur um ihn herum aus der Hand eines einzigen Schöpfers kommen, es aber in der geistigen Welt verschiedene Religionen geben soll. So setzte er sich mit den Weltreligionen auseinander und entdeckte dabei das Bahá'ítum. «Mich faszinierte vor allem die grosse Botschaft von der Einheit, vom einen Gott, von der Einheit der Religionen und der Menschheit», erzählt Kilchmann. Ausserdem überzeugte es ihn, dass nicht nur eine Philosophie, sondern eine von Gott kommende Botschaft hinter diesen Gedanken steht. Das Paradigma, dass alle heiligen Schriften aus einer Quelle kommen, eröffnete ihm auch einen neuen Zugang zum Evangelium. So entschied er sich mit etwa 18 Jahren, den Bahá'í anzugehören. 

Spiritualität
Für diese Religion ist der Mensch nur Besucher auf dieser Welt. Ziel ist es, dass jeder seine Seele auf die geistige Welt vorbereitet. «Dies geschieht durch tägliches Gebet, Beschäftigung mit den heiligen Schriften und Meditation», sagt Mark Kilchmann. Diese Zuwendung zum Göttlichen geschieht mitten im Alltag. Es braucht dazu keine Mittler wie z. B. Priester. Auch ein Mönchtum ist dieser Religion fremd. Ausserdem ist ihre Spiritualität eng verknüpft mit dem Tun. «Arbeit, die gewissenhaft verrichtet wird, hat den Rang eines Gottesdienstes», so Kilchmann. 
Die Bahá'í treffen sich regelmässig in kleinen Gemeinschaften, so zu den neun heiligen Tagen, zu denen z. B. der Geburts- und der Todestag des Stifters gehören, und zu Beginn jedes Monats, die nach ihrer Zählung 19 Tage dauern. Diese Treffen bestehen aus einem spirituellen Teil, einem Austausch über die Gemeinde und geselligem Beisammensein. Die Bahá'í sehen es als ihre Aufgabe an, etwas zur Entwicklung der Menschheit beizutragen, «damit aus der Erde ein Rosengarten wird» (Bahá’u’lláh). Deshalb engagieren sich viele von ihnen in sozialen und ökologischen Projekten, in der Eine-Welt-Arbeit und im interreligiösen Dialog.

Béatrice Eigenmann und Detlef Kissner, forumKirche 03.11.2022


Woche der Religionen im Thurgau
Wer mehr über die Umbanda erfahren möchte, kann an der kultischen Feier zu Ehren der Schutzpatronin Sara-la-Kâli, der Schwarzen Sara, teilnehmen. Sie findet am 5. November von 15–18 Uhr im Cantinho da Vovó Catarina statt (Frauenfelderstrasse 39, 8370 Sirnach). Anmeldung per E-Mail: info@cantinhodavovo.org 
Wer mehr über die Bahá'i erfahren möchte, kann an einer Begegnung mit Mitgliedern der Bahá'i-Gemeinschaft Thurgau teilnehmen. Sie findet am 11. November um 19 Uhr bei Familie Keusch statt (Bahnhofstrasse 63, 9320 Arbon). Anmeldung per E-Mail: keusch@bluewin.ch
 

Delene Schätti
Quelle: Béatrice Eigenmann
Delene Schätti vom Cantinho da Vovó Catarina in ritueller Bekleidung mit der Magna Charta der Umbanda-Religion in der Hand

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Mark Kilchmann
Quelle: Detlef Kissner
Mark Kilchmann mit einem Foto von ʿAbdul-Bahá, dem Sohn des Stifters der Bahá'í-Religion

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