Nachrichten über den Tod hinaus
Der Verein Hörschatz ermöglicht sterbenskranken Eltern, Audiobiografien für ihre Kinder aufzunehmen. Damit etwas von ihnen da ist, wenn sie selbst nicht mehr sind. Das kostenlose Angebot wird über Spenden finanziert und hilft den Hinterbliebenen genauso wie denjenigen, die Abschied von ihrem Leben nehmen müssen.
Wenn Oliver Wiser von seiner Frau Wanda spricht, nimmt seine leise und ruhige Stimme nochmals einen besonderen Klang an – einem inneren Lächeln gleich. Vielleicht weil er sie vor seinem geistigen Auge sieht, während er bedacht die Worte formt. «Wanda war ein sehr warmherziger und grosszügiger Mensch. Sie hatte tschechische und slowakische Wurzeln und dieses Temperament ist immer ein wenig bei ihr durchgebrochen. Die Familie war ihr sehr wichtig. Sie war zielstrebig, hatte viele Ideen und war ständig auf 'Zack'. Das alles habe ich an meiner Frau sehr geschätzt und mich deshalb schlussendlich auch in sie verliebt.»
Wanda Wiser starb im letzten Dezember an Magenkrebs, zwei Jahre nach ihrer Diagnose. Ein schwerer Schlag – nicht nur für ihren Mann, sondern auch ihre beiden Kinder Zoë und Jendrik, die damals zwölf und zehn Jahre alt waren. Lange kämpfte die 42-Jährige gegen die Krankheit und eine Zeit lang schien die Chemotherapie anzuschlagen. Doch dann kam der Krebs unerbittlich zurück und alle Behandlungen konnten das Unausweichliche nicht verhindern. Zuletzt wurde Wanda Wiser palliativ betreut, in ihrem Zuhause in Winterthur. Eine Zeit der Höhen und Tiefen für die Familie, in der der Tod sie zwar konstant begleitete, ihnen gleichzeitig aber auch noch viele schöne Erlebnisse schenkte wie die letzten gemeinsamen Ferien. «Das war ein Prozess durch sämtliche Phasen von Wut und Nichtakzeptanz bis schliesslich zum Herbeiwünschen des erlösenden Moments. Denn auch die Kinder haben gemerkt, dass es irgendwann nicht mehr schön ist mit der Mama, dass sie nur noch Schmerzen hat und nicht länger leiden sollte», erzählt Oliver Wiser.
Ein HerzenswunschIn den Köpfen und Herzen der Menschen, die sie liebten, in ihren Erinnerungen, auf Bildern und in alten Briefen, lebt Wanda Wiser weiter. Aber auch durch ihre Stimme, denn sie hat ihrer Familie etwas ganz Besonderes hinterlassen: ein mehrstündiges Hörbuch. Aufgeteilt in einzelne Kapitel wie Kindheit, Jugend, Berufsleben und Liebe, ist es ein Rückblick auf ihr Leben, «damit Zoë und Jendrik sich dadurch an sie erinnern können», erklärt Oliver Wiser. Doch die Aufnahmen enthalten auch Wünsche für die Kinder sowie Ratschläge für Situationen, die sie irgendwann einmal erleben werden, wie die erste Liebe oder die Entscheidung für einen Beruf. Ferner ermutigt Wanda Wiser sie, den Kopf nicht in den Sand zu stecken, sondern vorwärts zu schauen. «Ein solches Hörvermächtnis war ihr Herzenswunsch. Aus dem Bedürfnis heraus, weil Wanda ihren eigenen Vater ebenfalls früh verlor und immer sagte, dass man die Stimme eines Menschen am schnellsten vergisst», sagt Oliver Wiser.
Fachlich breit abgestütztDiesen Wunsch konnte ihr der Verein Hörschatz erfüllen. Er bietet sterbenskranken Eltern an, für ihre Kinder kostenlos eine professionell aufgenommene Audiobiografie zu verfassen. Die beiden Gründerinnen, Gabriela Meissner vom Palliative-Care-Verband Zürich und Schaffhausen sowie Radiomoderatorin Franziska von Grünigen, sind unabhängig voneinander im Sommer 2019 auf das deutsche Projekt Familienhörbuch aufmerksam geworden und haben sich durch den Austausch darüber kennengelernt. «Weil wir beide die Idee so berührend fanden, entschieden wir uns Ende 2019 in der Schweiz etwas Ähnliches als Verein aufzubauen», erklärt Präsidentin Gabriela Meissner. Also setzten sich die beiden Frauen mit ambulanten Palliative Care-Diensten in Verbindung und fragten an, ob sie schwerstkranke Patient*innen betreuen würden, die an einem solchen Angebot interessiert wären. Die Resonanz war gross und ermöglichte eine Pilotphase. Durch diese konnten sich Meissner und von Grünigen wiederum mit Fachpersonen austauschen, die das Freiwilligen-Projekt nun zusätzlich professionell stützen wie das Kompetenzzentrum für Palliative Care am Universitätsspital Zürich oder professionelle Trauerbegleiter*innen.
Ureigenen Weg findenSeit es den Verein gibt, konnten von insgesamt fünfzehn Anfragen bislang zehn Hörschätze realisiert werden. Einerseits durch private Spender, aber auch durch Crowdfunding. Jedes Vorhaben setze viel Vertrauen voraus, das Gabriela Meissner und Franziska von Grünigen langsam mit den Betroffenen aufbaue. «Wir führen im Vorfeld viele Gespräche, um zu erfahren, was und wie viel die Eltern überhaupt erzählen möchten und um sie über den genauen Ablauf und die Vorbereitung zu informieren», erklärt die Co-Gründerin. Die individuelle Gestaltung der persönlichen Nachricht hänge dabei auch immer vom jeweiligen Gesundheitszustand des Elternteils ab. Weil einige Patient*innen schon zu schwach für lange Aufnahmen seien, müsse hier manchmal eine kurze Ansprache oder ein Gutenachtlied genügen. Selbst der Ort, wo die Gedanken aufs Band gesprochen würden, sei unterschiedlich. Das könne bei den Betroffenen zu Hause sein, auf einer Palliativ-Abteilung oder über ein Online-Programm mittels zugesendetem Mikrofon. Nach dem Abschluss der Aufnahmen beginne die eigentliche Arbeit, der Schnitt und die Postproduktion. Zum Schluss werde den Betroffenen der von der geschützten Werkstätte altra Schaffhausen hergestellte Hörschatz-Stick in Herzform zugeschickt, in einer Schatztruhe und mit einem Inhaltsverzeichnis.
Bei allen positiven Aspekten, den ein Hörschatz mit sich bringt, gibt es jedoch auch ein paar kritische, mit denen sich die Eltern auseinandersetzen müssen. «Alles, was auf dem Hörschatz ist, ist nicht mehr verhandelbar. Kinder können im Nachhinein ihren verstorbenen Elternteil nicht mehr fragen, wie etwas gemeint war. Aufträge an sie, die mit «du musst» beginnen, sollten deshalb vermieden werden. Diese können für die Kinder später zur Belastung werden, denn schliesslich müssen sie ihren ureigenen Weg finden», erklärt Gabriela Meissner. Natürlich sollte auch die Trauer der Betroffenen Platz haben während der Aufnahmesituation. So komme es vor, dass jemand einfach minutenlang nur weine, aus Verzweiflung darüber, ein sterbender junger Mensch zu sein. Diese Emotionen würden aber nicht in den Hörschatz einfliessen. Trotzdem mache die Krankheit ein Kapitel aus, weil auch sie ein Teil des Lebens der Mutter oder des Vaters sei.
Gefühl der ErleichterungGabriela Meissner hilft ihr Palliative Care-Hintergrund sehr bei dieser Arbeit, um die Erfahrungen, die sie dadurch mitnimmt, auch für sich selbst auszuhalten. «Die Augenblicke, die wirklich extrem traurig sind, machen aber eigentlich nur einen ganz kleinen Bruchteil aus. Wir reden vor allem über das Leben. Das eigene durch den Rückblick zu würdigen, ist extrem wertvoll für die sterbenden Menschen. Sie sehen, wie unglaublich reichhaltig es war, mit vielen wunderbaren, manchmal schweren, aber auch lustigen Momenten, Erinnerungen und Erlebnissen», hält Gabriela Meissner fest. Durch ihr Engagement als Audiobiografin sei sie selbst dankbarer und demütiger geworden. «Ich sehe, dass es viel Leid gibt, das sich nicht ändern lässt, sondern irgendwie ausgehalten werden muss. Doch ich habe immerhin die Möglichkeit, vielleicht etwas dazu beitragen zu können, dass diese unglaublich schwere Situation ein bisschen weniger schwer ist», sagt sie.
So sieht es auch Oliver Wiser. Zwar seien die dreitägigen Aufnahmen im Wohnzimmer der Familie, die ohne ihn und die Kinder stattgefunden hätten, für seine Frau Wanda sehr anstrengend gewesen. Sie hätte diese aber auch als Erleichterung erfahren. «Für Wanda war es wie eine Therapie. Die Auseinandersetzung mit sich selbst hat dazu geführt, dass sie abschliessen konnte. Sie spürte, dass sie ein tolles Leben hatte, auch wenn es viel zu schnell endete. Das ist sicher nicht einfach und zehrt an den Kräften, aber es hilft, um dem Tod gelassener entgegenzutreten», sagt der Familienvater. Vermutlich hätte ihr das auch die nötige Kraft gegeben, noch ein bisschen länger zu leben, als die Ärzte prognostiziert hatten. «Die Aufnahmen waren Ende April und schon damals dachten wir, dass Wanda nur noch einige Wochen übersteht. Sie lebte aber weiter bis Dezember», sagt Oliver Wiser.
Zuversicht und HoffnungAuf die Frage, wie es gewesen sei, das erste Mal die Nachrichten zusammen mit den Kindern anzuhören, erwidert er: «Schmerzvoll, weil wir wussten, dass sie nicht mehr da ist.» Danach hörte er fast alles einmal an, auch, um seine Kinder auf bestimmte Kapitel aufmerksam zu machen, wenn sie Rat suchten. Bis jetzt sei das noch nicht so häufig vorgekommen. Im Moment liessen sie den Hörschatz wieder ruhen. «Ich hoffe, dass sich das mit den Jahren ändert, wenn sie vielleicht einen anderen Bezug dazu haben», sagt Oliver Wiser. Er selbst lauscht ab und zu, wenn seine Frau ihm besonders fehlt, den Worten, die speziell an ihn gerichtet sind. «Das nimmt mich immer wieder emotional mit, weil es mich retraumatisiert. Wenn ich ihr Bild dazu anschaue und ihre Stimme höre, ist es fast so, als wäre sie neben mir. Diese Momente geben mir aber auch Zuversicht und Hoffnung.» Für den Familienvater, der in seinem Glauben Halt findet, ist der Hörschatz ein wichtiger Teil der Trauerbewältigung, eine Reflexion mit dem Leben, aber auch ein Motivator, weiter zu machen. «Was gestern passiert ist, kann ich nicht mehr beeinflussen, und was morgen ist, sollte mich jetzt nicht sorgen. Ich versuche, mit den Kindern jeden neuen Tag zu geniessen.»
Sarah Stutte, forumKirche, 02.11.2021
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