Wie die Kirchenleitung mit Dogmen Reformen verhinderte
Zur Pastoralkonferenz am 11. Februar konnten die Verantwortlichen einen besonderen Gast begrüssen: Prof. Dr. Michael Seewald, Inhaber des Lehrstuhles für Dogmatik und Dogmengeschichte an der Universität Münster, referierte Kerngedanken aus seinem Buch «Reform – dieselbe Kirche anders denken» und analysierte den Reformstau in der Kirche auf dem Hintergrund der Entwicklung des Dogmenbegriffes.
Da für Michael Seewalds Verständnis von Dogmen die Moderne eine entscheidende Rolle spielt, begann er zunächst damit, sich der Definition dieses Begriffs anzunähern. Für Herbert Schnädelbach, der die Moderne nach inhaltlichen Kriterien zu fassen versucht, ist sie dadurch gekennzeichnet, dass keine höhere Instanz als das «kulturelle Wir» anerkannt wird. «Damit wird es für Religion, die einen starken Transzendenzbezug hat, mit zunehmender Moderne immer schwieriger», so Seewald. Die eher formal ausgerichtete Definition von Volker Schmidt (Universität Münster) beschreibt die Moderne nicht als Zustand, sondern als «moving target» (sich bewegendes Ziel). Sie zeichnet sich durch eine immer neu zu bestimmende Zukunft aus.
Dogma als Antwort auf EntscheidungszwangAnknüpfend an die beiden Definitionen konstatierte Seewald, dass die Moderne für eine Institution wie die Kirche, die gewohnt sei, mit Ewigkeitswerten zu hantieren, eine grosse Herausforderung darstelle. Aber auch für den einzelnen werde es schwieriger, sich in einer wandelnden Umgebung religiös zurechtzufinden. Angesicht der religiösen Dynamik sei er dem Druck des Auswählens und Entscheidens ausgesetzt.
In Anlehnung an die Gedanken von Peter Bergers Buch «The Heretical Imperative» stellt er im Blick auf den modernen Menschen fest: «Die Entscheidungslast ist angesichts der Vielfalt religiöser Möglichkeiten enorm gestiegen». Auf diese Gefahr habe das Lehramt reagiert. Seewalds These lautet: «Das Dogma ist die Reaktion des Lehramts auf diese Bedrohungslage.»
Dabei ist für ihn die Moderne nicht erst ein Phänomen der letzten Jahrzehnte, sondern sie beginnt bereits mit der Umbruchsituation, die im späten 18. bzw. frühen 19. Jahrhundert eingesetzt hat.
In der Antike hat der Begriff des Dogmas gemäss Seewald eine andere Qualität gehabt. Die Ergebnisse der alten Konzilien wurden nicht als Dogmen bezeichnet. Das neue Verständnis von Dogma birgt nämlich die Entscheidungsmöglichkeit in sich. Man hat die Wahl zwischen Alternativen. Die Kirchenleitung wollte diese Wahl aber nicht dem einzelne überlassen, sondern möchte sie autoritativ entscheiden.
Was unter einem Dogma zu verstehen ist, formulierte zum ersten Mal das Erste Vatikanische Konzil (1869-70). Es legt fest, dass der göttliche Glaube (=Offenbarung) durch das Lehramt normiert wird. «Der Papst betrachtet sich als entscheidungskompetente Instanz, die die Vieldeutigkeit der Offenbarung so interpretiert, dass dem einzelnen die Möglichkeit oder auch Last der Entscheidung abgenommen wird. Zugleich wird Gehorsam gegenüber dem Lehramt verlangt», stellte Michael Seewald heraus. Für ihn ist es kein Zufall, dass dieses dezisionistische Element erst im 19 Jahrhundert betont wird, in einer Zeit, in der ein Zwang zur Wahl entsteht.
Diese Weichenstellung des Lehramtes wurde anfangs noch akzeptiert, verlor aber im Laufe der Zeit an Plausibilität. «Die Vorstellung, dass wir den göttlichen Glauben durch den katholischen Glauben wahrnehmen sollen, ist den meisten von uns heute fremd», so Seewald.
Auf das Unverständnis gegenüber diesen Normierungen reagierte die Kirchenleitung damit, «die disziplinarischen Schrauben fester zu drehen». Michael Seewald führt als Beispiel «das Unwesen der kirchlichen Eidesleistungen» an. Bis 1967 hätten Kleriker den Antimodernismuseid zu leisten gehabt, danach seien für jede Weihestufe eigene Versprechungen eingefordert worden. «Die Kirchenleitung hat auf die Autoritätskritik mit Autoritätssteigerung geantwortet», so Seewald.
Dies wirkte sich auch auf die Definition des Dogmas aus. Während das Erste Vatikanische Konzil die kirchliche Lehrautorität auf die Offenbarung beschränkt hat, überschreitet der Katechismus der Katholischen Kirche (KKK, 1992 approbiert) diese Grenze. Obwohl dieser nur den Anspruch hat, die Neuerungen des zweiten Vatikanischen Konzils zusammenzufassen, und für sich keine eigene Innovation beansprucht, erweitert er den Lehrbereich des Dogmatischen. Er schliesst auch Wahrheiten ein, die mit der Offenbarung «in einem notwendigen Zusammenhang stehen». «Das ist eine Ungeheuerlichkeit. Der Katechismus hat gleich zwei Konzilien korrigiert», stellt Michael Seewald fest. Beim Zweiten Vatikanischen Konzil habe das Dogma keine Rolle gespielt. Es habe aber Offenbarung stärker als kommunikatives Geschehen der Begegnung zwischen Gott und dem Menschen verstanden, nicht als Mitteilung übernatürlichen Wissens.
Verbunden mit GeschlechterordnungMichael Seewald unterscheidet somit zwei Dogmentypen: Typ 1, nach der Definition des Vatikanums I, und Typ 2, nach der Definition des KKK. Der Zusammenhang mit der Offenbarung, der bei Typ 2 geltend gemacht wird, kann nach Ansicht des Lehramtes durch logische Schlussfolgerungen oder durch einen geschichtlichen Bezug zur Offenbarung abgeleitet werden. Den zweiten Weg hält Michael Seewald für problematisch, da er schliesslich zu einer weiteren Ausweitung des Dogmenbegriffs geführt hat. Das Lehramt argumentierte nämlich folgendermassen: Die Offenbarung gehe so enge Allianzen mit der ständischen Ordnung, bzw. mit der Ordnung der Geschlechter ein, dass sie nicht mehr aus diesen herausgelöst werden können. Das Nein zur Frauenordination ist auf diese Weise mit dem Dogmentyp 2 begründet worden.
Michael Seewald hält dieses Vorgehen für problematisch: «Der Papst hat sich seit 1992 selber ermächtigt, diese Interpretationen als Dogmen darzustellen. Das sind aber vollkommene geschichts- und traditionslose Dogmen - Dogmen, die man erst seit 1992 unter diesem Begriff zu fassen versucht.»
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Dogma eine sehr junge, in antimodernistischer Absicht entwickelte Konzeption ist. Die geschichtliche Plausibilität von Dogmen entsteht und vergeht je nach Interpretation. Damit verlieren in diesem Sinne «dogmatisch» geführte Begründungen – wie im Fall der Ablehnung der Frauenordination - an Argumentationskraft und Bedeutung.
Detlef Kissner (4.3.2020)
Bilder: Detlef Kissner
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