Dogmatiker referiert über «Selbstverantwortliche Kirchgemeinden»

Am 26. Oktober kommt Prof. Dr. Hermann Häring nach Romanshorn, um einen Vortrag über das Thema «Selbstverantwortliche Kirchgemeinden - Zwischen Utopie und Realismus» zu halten. Der kritische Theologe aus Tübingen (D) propagiert einen Aufbruch der Kirche «von unten». In einem Interview beschreibt er, wie er sich diesen Erneuerungsprozess vorstellt.

Wo steht die katholische Kirche Ihrer Ansicht nach heute?

Die katholische Kirche ist in einer ganz kritischen Situation. Es gibt viele Kräfte, die inzwischen erkannt haben, dass radikale Neuerungen notwendig sind, und es gibt andere Kräfte, die sich vehement dagegen sperren. Sie lassen es auf schwerste Konflikte ankommen.
Doch ist die Polarisierung, die in erster Linie in Rom stattfindet, nur ein Symptom. Für viele gilt der Papst als der grosse «Polarisierer», als der, der den Glauben aufgibt. Das glaube ich nicht. Aber durch sein Verhalten, das manchmal sehr fortschrittlich, manchmal sehr zögerlich ist, kann er die Polarisierungen nicht eindämmen. Er gibt jeweils einem der beiden Flügel die Möglichkeit, sich profiliert zu äussern. 

Was ist Ihr Hauptanliegen? Wo setzt ihre Kritik an?

Ich gehe von der Kirche unseres Kulturkreises aus, nicht von der ganzen Weltkirche, weil es meines Erachtens keine Einheitslösung für alle Problemkreise gibt. Wir kommen nur weiter, wenn wir eine Art Pluralität innerhalb der Kirche akzeptieren, wenn die Kirchen auf den einzelnen Kontinenten grosse Freiräume zur Gestaltung haben. 
Die Aufgabe der westeuropäischen Kirche ist es, endlich ein Kirchenmodell zu entwickeln, das einerseits den Menschenrechten voll entspricht – da darf es keine Grauzone mehr geben – und auf der anderen Seite entschieden daran arbeitet, die vormoderne Vergangenheit abzulösen.

Was verstehen Sie unter «selbstverantwortlichen Kirchgemeinden»?

Bisher waren wir es gewohnt, unsere römisch-katholischen Reformoptionen im konfessionellen Streit zwischen reformierter und katholischer Kirche anzusetzen. Das greift zu kurz, weil es schon früher fundamentale Änderungen gab, die wir ungefragt übernommen haben. Schon im 4. Jahrhundert, als die Kirche im römischen Reich zur Staatskirche wurde, hat sie ein bestimmtes Autoritätsmodell übernommen. Die Bischöfe erhielten staatliche Vorrechte. Sie sind heute noch in byzantinischem Purpur gehüllt. Von da an ist ein Modell der Kirchenleitung entstanden, in dem die Autorität von oben nach unten weitergereicht wird. Die Bischöfe sind Lehrer, Hirten, oberste Gesetzgeber und Ausführer des Rechts. Es handelt sich im Grund um ein absolutistisches Staatsmodell. Damit ging etwas Wertvolles kaputt, nämlich der Ausgangspunkt aller Vollmacht, aller Wahrheitssuche, aller Bekenntnisse aus den Gemeinden. 
Die Gemeinden von Rom, Korinth, Galatien, Ephesus, Philippi und Thessaloniki wurden von Paulus als «Kirche» angesprochen. Deshalb wäre es vom biblischen Standpunkt aus wichtig, dass wir jede Gemeinde im Vollsinn als Kirche verstehen. Das berührt unmittelbar die Eigenverantwortlichkeit der Gemeinden, denn bis jetzt waren wir eine Kirchenstruktur gewöhnt, die alle Verantwortlichkeit und Entscheidungsvollmacht prinzipiell bei den Bischöfen, wenn nicht gar beim Papst niederlegt.
Deshalb machen sich die Gemeinden immer noch vom Urteil des Bischofs abhängig. Wenn er etwas verbietet, dann fügt man sich, egal ob aus pragmatischen oder prinzipiellen Gründen. Diese Schwelle der inneren Abhängigkeit ist zu überwinden. Jede Gemeinde muss – und das ist ein Bewusstseinsprozess – lernen, ihre eigene christliche Lebensform zu finden, zu entwickeln und zu vertreten. Dieser Paradigmenwechsel hat in Bezug auf die Kirchenleitung weitreichende Konsequenzen. Dann wird jedes Amt von den Gemeinden delegiert. 
Bisher wurde die Diözese nicht als Regionalverband, sondern als «Ortskirche» (ecclesia localis) verstanden. Dies hat Erneuerungen verhindert, weil übergeordnete Instanzen immer blockieren, das Alte bewahren möchten. Die Konsultation mit der Welt, neue Erfahrungen, die Probleme der Menschen zeigen sich aber unten an der Basis. Dort brechen sie auf und können formuliert werden.

«Selbstverantwortlichen Kirchgemeinden» wären also solche, die ihr Glaubensleben selber gestalten?

Sie müssen zunächst herausfinden, was für sie Christsein bedeutet. Konkret ist das nicht einfach. Wir können aber jeden Tag überlegen: was ist angemessen, was nicht, welche Regeln, Sprechweisen werden noch verstanden, welche nicht? Gerade in Zeiten, in der die Kirchenmitgliedschaften abnehmen und die gesellschaftliche Relevanz der Kirche dramatisch sinkt, ist es wichtig, dass die Gemeinden selber nach den Gründen für diesen Rückgang suchen und nicht nach dem Bischof schauen. 
Meist werden «selbstverantwortliche Gemeinden» mit Pfarrgemeinden identifiziert. Dann sagen viele: Die werden ja immer schwächer, da ist keine Dynamik mehr drin. Ich denke jedoch auch an neue Gemeinschaften, die sich neben den Pfarrgemeinden gebildet haben. Es gibt Pioniergemeinden, die aus Reformgruppen entstanden sind und ökumenische Gruppen. Auch diese sollten den Mut haben, sich als elementare Form von Kirche zu verstehen. Auch sie haben eine Botschaft, die sie sich gut überlegt haben, weil sie die Schrift gelesen und darüber nachgedacht haben, was Menschlichkeit, Gerechtigkeit und Treue usw. ist. Sie haben das Recht, sich kraft eigenen Gewissens in das Gespräch der Gesamtkirche einzubringen.

Gibt es schon solche Gemeinschaften? Wie könnten sie entstehen?

Ich denke, dass die Schweiz gegenüber Deutschland Einiges voraushat, weil dort demokratischer gedacht wird, weil die Bischöfe aufgrund des dualen Systems nicht so dominant sind wie in Deutschland. 
In den Niederlanden gibt es immer mehr Menschen, die sich aus alten Pfarrstrukturen zurückgezogen haben, weil sie sich darin nicht mehr zurechtfinden. Sie nennen sich «Kirche in selbständiger Position» und treffen sich jede Woche oder alle vierzehn Tage zu ökumenischen Gottesdiensten, die Menschen ansprechen. Sie gehen ihren Weg ganz unspektakulär, lassen sich von ihrem Bischof nicht mehr Dinge vorschreiben, die ihrer Ansicht nach mit der Botschaft Jesu wenig zu tun haben. Der Akzent liegt dabei nicht auf Recht oder Vollmacht, sondern sie verweisen ganz selbstverständlich auf die Entdeckungen ihrer Gewissensentscheidung. 

Es geht also um die eigene Erfahrung, der mehr Bedeutung zugemessen wird….

Ja, aber sie hat nicht den Unterton: Das ist meine subjektive Entscheidung. Es geht ihnen nicht um eine pietistische Erfahrung, sondern um eine, die aus einem Konsens heraus entstanden ist. Wenn diese Gemeinden um ihre Meinung gefragt werden, scheuen sie die Öffentlichkeit nicht. Sie suchen jedoch nicht die öffentliche Provokation. Für die Leitung des Gottesdienstes entscheiden sie sich gerne für einen katholischen Priester. Es kann aber auch ein evangelischer Pastor sein oder jemand aus den eigenen Reihen, die oder der dafür bestimmt wurde. Solche Gemeinden suchen nicht den Streit, sondern gehen ihren eigenen Weg in der inneren Gewissheit, dass sie etwas verändern müssen, wenn sie ihr Christsein zeitgemäss interpretieren wollen.

Welche Herausforderungen stellen sich für eine solche Gemeinschaft? Was ist das Utopische an einer solchen Idee?

Ich glaube, dass viele Leute schon lange das Gefühl haben, dass in ihrer Stammgemeinde etwas nicht stimmt. Sie haben instinktiv angefangen, Verantwortung für eine eigene Gemeinschaft zu übernehmen. Es gibt ein schönes Wort von Hannah Arendt: «Niemand hat das Recht zum Gehorsam». Es hat niemand das Recht, in Glaubensfragen einfach nachzuerzählen, was offizielle Lehre ist. Jeder ist dazu verpflichtet, selber nachzudenken. Wir brauchen dafür einen Raum von grösster Eigenständigkeit. 
Weiterentwicklung ergibt sich aus der Kommunikation und aus vorbehaltloser Kooperation. Es muss möglich sein, dass jede*r ihre*seine Fähigkeiten, «Charismen» wie Paulus sagt, einbringen kann. Dazu müssen sich die Strukturen grundsätzlich ändern und dies muss spirituell begleitet und bearbeitet werden. Den Bischöfen die Macht nehmen zu wollen, ist zu simpel. Denn in der Kategorie «Macht» sitzt ja selber der Wurm. Basis der Veränderung muss der Konsens sein. Das bedeutet nicht, dass alle das Gleiche wollen, aber dass man in Grundfragen zusammensteht.

Wie bleiben die Gemeinschaften untereinander verbunden?

Ich sehe zwei Wege, die zunächst parallel laufen können. Die bislang traditionellen Gemeinden könnten mit grosser Klugheit ihren eigenen Weg gehen, nicht gleich alles auf Konflikt bürsten, sondern verhandeln oder etwas verändern, ohne es an die grosse Glocke zu hängen, also versuchen, die traditionellen Linien nicht einfach abzubrechen. Wenn dennoch ein Konflikt entsteht, sollte er offen ausgetragen werden. 
Auf der anderen Seite werden wir an vielen Orten in die schwierige Phase kommen, in der die traditionelle Pastoral zusammenbricht, z. B. weil Priester fehlen. Vielleicht werden irgendwelche Gruppierungen entstehen, die schwer zu definieren sind. Es kann dann durchaus 10 bis 15 Jahre dauern, bis sich herauskristallisiert hat, wie diese Gruppen sich verstehen und was genau sie wollen. 
Kirche muss durch einen engen Tunnel gehen, damit etwas Neues entstehen und bis sie sich als Gemeinschaft definieren kann. Wir müssen darauf vertrauen, dass eine neue Form von kirchlichen Gemeinschaften kommt, die wir alle noch nicht kennen.

Ihre Ideen sind sehr «konsequent», für konservative Christen schwer annehmbar. Könnten sie nicht zu einer Kirchenspaltung führen?

Das kann ich nicht ausschliessen. Was ist vorzuziehen, ein Verschwinden oder eine Spaltung? Die Gefahr der Spaltung darf nicht dazu führen, nichts zu unternehmen. Hat Luther nicht richtig gehandelt oder Calvin, weil die katholische Kirche sich ihren Ideen verweigert hat? Wer war verantwortlich für diese Spaltung? Auf der einen Seite sollte eine Spaltung vermieden werden, auf der anderen Seite sollte man vor einer Spaltung auch nicht zurückschrecken, wenn sie einem aufgedrängt wird. Die Wahrheit sollte nicht durch solche Ängste verraten werden. Die institutionelle Einheit hat keine Priorität gegenüber der inneren überzeugenden Klarheit, mit der wir auch nach aussen gehen.
Wir sind heute nicht in der Situation wie am Vorabend der Reformation, als die Institution Kirche wie ein geschlossener Block dastand, sich einer Reform verweigerte und die Reformwilligen einfach rausschmiss. Nein, die Institution Kirche ist selber am Zusammenbrechen. Deshalb wird es vielleicht harte Flügelkämpfe geben, aber wohl keine offene Spaltung. Entscheidend ist, dass sich langfristig eine neue Idee von kirchlicher Lebenspraxis entwickelt, die nach aussen überzeugt.

Interview: Detlef Kissner, forumKirche, 29.9.20
 

Hermann Häring
Quelle: Hurka
Hermann Häring war von 1980 bis 2005 Professor für systematische Theologie bzw. für Wissenschaftstheorie und Theologie an der Universität Nijmegen (Holland).

Kommentare

+

Neuen Kommentar hinzufügen

Der Inhalt dieses Feldes wird nicht öffentlich zugänglich angezeigt.

Klartext

  • Keine HTML-Tags erlaubt.
  • Zeilenumbrüche und Absätze werden automatisch erzeugt.
  • Website- und E-Mail-Adressen werden automatisch in Links umgewandelt.
CAPTCHA
Diese Sicherheitsfrage überprüft, ob Sie ein menschlicher Besucher sind und verhindert automatisches Spamming.
Bild-CAPTCHA
Geben Sie die Zeichen ein, die im Bild gezeigt werden.