Grossmütter wollen die Wirtschaft verändern

Gewisse Gruppierungen finden, dass mit unserer Wirtschaft etwas nicht stimmt. Ein Thinktank von älteren Frauen plant Massnahmen für eine Berichtigung. Die Theologin Ina Praetorius erläutert, wie sich die Bedeutung von Wirtschaft ins Ungesunde verschoben hat, wo die Gründe dafür liegen und welche Lösungen es gibt. 

Im Seminarraum des Klosters Kappel am Albis brummt es wie in einem Bienenhaus. Gegen 60 Frauen – lang- und kurzhaarig, zumeist ergraut, manche mit kirschroten Lippen, manche in Röcken, andere in Hosen – diskutieren angeregt in Kleingruppen. Die Wände des Raums sind tapeziert mit vollgeschriebenem Packpapier, überall stehen betextete und mit bunten Post-its vollgeschriebene Flipcharts. «Frauenstreik», «Königin in meinem Reich fühlen», «systemrelevante Gratisarbeit im Lebenslauf aufführen – auch für Beerdigung», «Narrenfreiheit nutzen» ist da zu lesen oder «Wie gelingt es uns, unsere Umwelt aufzumischen?». Es handelt sich bei den Frauen um Mitglieder der GrossmütterRevolution, die sich anlässlich ihrer Frühlingstagung mit dem Thema «Wirtschaft und Care. Grossmütter engagieren sich» befassen und ihre Gedanken notieren. Die Stimmung ist gut. Eine Frau äussert den Spruch «lieber plissiert als einfältig» und erntet heitere Lachsalven. Als «Wohlfühlbad» bezeichnet eine andere die Tagung. «Sehr spannend, sehr viele gute Ideen. Jetzt bräuchte es noch Gruppierungen aus anderen Schichten, die die Sache aufgreifen», findet eine weitere Teilnehmerin. 

Wer hat Angst vor Grossmüttern?
Inmitten der Frauen sind Power und Potenzial zu spüren. Auch wenn die Wörter «Care» und «Grossmütter» mild und lieblich klingen mögen, sollte man den Ausdruck «Revolution» im Vereinsnamen zu hundert Prozent ernst nehmen, denn diese Frauen haben garantiert noch anderes im Kopf als Märchen für ihre Enkel. So liessen sich beispielsweise vor zwei Jahren einige Mitglieder für einen Kalender ablichten. Nackt. Welch ein Tabubruch! Und aus ihrem Dunstkreis stammen die KlimaSeniorinnen, die die Schweiz am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte erfolgreich verklagt hatten wegen deren mangelnder Massnahmen gegen den Klimawandel.

Neubewertung unbezahlter Care-Arbeit
Das Thema «Wirtschaft ist Care» passt bestens ins Spektrum der Grossmütterbewegung mit ihren Anliegen rund um Alter, Frausein, Generation. Denn es handelt sich bei der Gruppe um Expertinnen in kostenloser Care-Arbeit, haben doch die meisten von ihnen als Mütter eine Familie gemanagt. Und jetzt, als Grossmütter, wird von ihnen nicht selten erwartet, dass sie im unentgeltlichen Hüten ihrer Enkel Erfüllung finden. Tatsächlich mag ihnen das gefallen. Jedoch nicht nur. Angeregt durch Referate von Ina Praetorius, der Erfinderin der Formel «Wirtschaft ist Care», bearbeiten die Grossmütter eine Neubewertung der unbezahlten Care-Arbeit und ersinnen Massnahmen zugunsten einer lebensfreundlicheren Ausrichtung der Wirtschaft.

Im nachfolgenden Interview erläutert Ina Praetorius, was hinter ihrer Kurzformel «Wirtschaft ist Care» steckt und welche Rolle Grossmüttern dabei zukommt.

Ina Praetorius, Ihre Formel klingt widersprüchlich, wenn man sie zum ersten Mal hört. Welches ist das Hauptanliegen dahinter?
«Die» Wirtschaft ist heute so wichtig und hat so viel zu sagen, dass ich mich vor Jahren zu fragen begann, was Wirtschaft eigentlich ist und was sie leisten sollte. Meistens setzen wir Wirtschaft mit Börsenkursen, Geld, Wachstum und Profit gleich. Dabei hat sie im Ursprung die Aufgabe, die Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen. Mit dem Hinweis darauf kann man eine Debatte anstossen, und das ist nötig, da sich einiges verändern muss. Die marktorientierte Wirtschaft hat uns in ernsthafte Krisen gestürzt. Das ist bereits erkannt, und es gibt erste Gegenmassnahmen. Denken wir an die Annahme der Pflege-Initiative und an die Auszahlung einer 13. AHV-Rente. 

Wie sähe die Welt aus, in der Sie gerne leben würden? 
Ich muss vorausschicken, dass ich von einer Welt in 100 Jahren spreche. Ich glaube nicht, dass wir bereits in fünf bis zehn Jahren so weit sind, denn es muss eine Art Kulturrevolution stattfinden. – Meine Welt ist eine Care-zentrierte. Bei der Raumplanung liegt das Augenmerk auf kleinen Kindern statt auf Autos. Alles Lebensnotwendige ist in kurzen Distanzen erreichbar. Der Staat investiert in Altenpflege statt in Autobahnen. Die Norm-Erwerbszeit ist deutlich herabgesetzt. Denn wozu sollen wir viel Geld erwerben? Nur um zu konsumieren? Stattdessen verbringen alle Menschen Zeit mit Care-Arbeit. Dies sind einige Stichworte dazu.

Welchen Beitrag können Grossmütter in solch einem Umdenken der Gesellschaft leisten?
Die am meisten diskriminierten Menschen in patriarchalen Strukturen sind alte Frauen. Denn im Patriarchat sind Frauen nur als Gebärerinnen und als attraktive Verführerinnen interessant. Alte Frauen können beides nicht mehr bieten. Viele von ihnen leiden darunter, dass sie nicht mehr begehrt werden. Machen sie sich aber bemerkbar, verursacht das Irritation. Diese kann in Kompetenz und Autorität umgewandelt werden. Denn es gab schon lebensfreundlichere Gesellschaften. Die Grossmutter galt dort als Ursprung, als weise und war für Kinder genauso wichtig oder wichtiger als die Mutter. In krisenhaften Zeiten nehmen Grossmütter eine Schlüsselrolle ein. Sie verfügen über Tugenden, die es dann braucht: Fürsorglichkeit, Weisheit, Erfahrung, Langsamkeit.

Wie könnte der Beitrag von anderen Schichten zu einer Gesellschaft aussehen, die das gute Leben für alle anstrebt?
Der Impuls der Grossmütter ist wichtig. Aber die Fürsorgebereitschaft muss vom Geschlecht gelöst werden. Auch der «homo oeconomicus», der weisse Mann, ist verletzlich, wird alt und gebrechlich und braucht Care, obwohl er sich unabhängig gibt und seit 200, 300 Jahren die Wirtschaft lenkt. Also kann «Caring» nicht nur ein Frauenthema sein. Alle Gruppen müssen ihren Beitrag leisten. Sonst kommen wir nicht weiter. So gibt es beispielsweise eine Kampagne namens MenCare, die sich für die Stärkung der väterlichen Fürsorge und Präsenz einsetzt. 

Auch Frauen, die noch im Erwerbsleben stehen, haben oft kein Gewicht mehr in der Wirtschaft. Woher kommt der Mut der Grossmütter, eine Revolution anzuzetteln?
Die Mitglieder der GrossmütterRevolution sind gebildete Frauen. Ihre Kompetenz verflüchtigt sich nicht durch die Pensionierung. Alte Frauen haben Freiheit. Freiheit macht Herrschenden Angst. Über die Erwerbsarbeit hingegen kann man die Menschen disziplinieren. Die Frauen der GrossmütterRevolution wollen aber das gute Leben für alle und greifen zum Beispiel das Thema bedingungsloses Grundeinkommen wieder auf. Als AHV-Bezügerinnen können sie darüber berichten, wie es ist, wenn das Geld bedingungslos kommt, und genau das wollen sie tun. 

Was entgegnen Sie Personen, die finden, das bedingungslose Grundeinkommen würde Parasitentum fördern?
Die Erfahrung der Grossmütter widerspricht dem Mythos, dass augenblicklich faul wird, wer ohne Existenzkampf Geld erhält. Richtig ist hingegen, dass Geld die Freiheit schafft, sich sinnvolle Betätigungen zu suchen. Zwar gibt es in jedem System einzelne Leute, die Arbeit verweigern, aber das sind Ausnahmen. Die meisten wollen – vielleicht nach einer Auszeit – sinnvoll tätig sein und könnten dabei von Sozialarbeiter*innen unterstützt werden. Im heutigen lohnarbeitszentrierten System müssen Sozialarbeiter*innen ja tragischerweise oft die Leute disziplinieren, statt sie zu fördern. Alleinerziehende Frauen würden finanziell eine grosse Erleichterung erfahren mit dem bedingungslosen Grundeinkommen. Und die, die das Geld nicht brauchen, versteuern es ganz einfach. Dass dieses Modell noch nicht da ist, liegt an den Kontrollmöglichkeiten durch Erwerbsarbeit und an der Konditionierung durch den Kapitalismus: Das Arbeitsethos «Lohn gibt’s nur für Leistung» sitzt tief. Deshalb ist es so wichtig, dass die Grossmütter laut sagen: Nein, die AHV zeigt uns, dass es auch anders geht.

Anja Eigenmann, 29.5.24


Über Ina Praetorius
Ina Praetorius ist evangelische, feministische Theologin, Autorin sowie Gründerin des Netzwerkes «Wirtschaft ist Care». Ihr Hauptthema ist die postpatriarchale Ökonomie. Sie ist mit einem Pfarrer verheiratet, Mutter einer Tochter und lebt in Wattwil. Inzwischen ist sie im Pensionsalter.

Mehr zu «Wirtschaft ist Care»; auf der Website wird u.a. ein Kurzfilm präsentiert, der die Grundgedanken dazu erklärt. 

Mehr zur GrossmütterRevolution

Die Frauen der GrossmütterRevolution sind Expertinnen in Care-Arbeit und möchten, dass diese mehr ins Zentrum der Wirtschaft gerückt wird.
Quelle: Alexandra Gisler
Die Frauen der GrossmütterRevolution sind Expertinnen in Care-Arbeit und möchten, dass diese mehr ins Zentrum der Wirtschaft gerückt wird.

 

 

Die Frauen der GrossmütterRevolution tragen ihre Gedanken und Wünsche zum Thema «Wirtschaft ist Care» zusammen.
Quelle: Alexandra Gisler
Die Frauen der GrossmütterRevolution tragen ihre Gedanken und Wünsche zum Thema «Wirtschaft ist Care» zusammen.

 

 

Ina Praetorius ist die Erfinderin und Gründerin von «Wirtschaft ist Care».
Quelle: Anja Eigenmann
Ina Praetorius ist die Erfinderin und Gründerin von «Wirtschaft ist Care».

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