Gewisse kirchliche Normen verhindern freien Glauben

Wenn Menschen in ihrer geistlichen Selbstbestimmung verletzt werden, spricht man von spirituellem Missbrauch. Doris Reisinger*, Fachfrau und Beraterin zum Thema, sieht Ursachen dafür im Kirchenrecht.  

Spiritueller Missbrauch bedeutet im Kern die Verletzung der spirituellen Autonomie eines Menschen. Können Sie ein Beispiel aus dem Pfarreileben nennen? 
Nehmen wir die Vorbereitung zur Erstkommunion. Laut Kirchenrecht gilt die Pflicht zur Beichte vor der Erstkommunion**. Das Kind will vielleicht zur Erstkommunion, aber nicht zuerst beichten. Ein Kind zu nötigen, dass es einem fremden Erwachsenen das eigene Gewissensleben offenlegt, obwohl es das eindeutig nicht will, ist ein gewaltsamer Übergriff in das geistliche Innenleben dieses Kindes. 

Dann darf die Kirche keine Bedingung stellen, bevor sie ein Sakrament wie die Firmung oder die Erstkommunion spendet?
Es ist doch merkwürdig, dass diese Bedingung einer verpflichtenden Beichte gerade für Kinder gilt. Niemand sonst hat je eine Pflicht zur Beichte in der Form, dass ihm ein Termin vorgeschrieben wird, bei dem der Priester auf sein Bekenntnis wartet und er dann nur zur Kommunion gehen darf, wenn er diesen Termin wahrgenommen hat. Nicht einmal Straftäter werden gezwungen, zur Beichte zu gehen, bevor sie kommunizieren dürfen. Wir wissen, dass das für Kinder oft belastend ist, viele haben Angst davor oder wissen nicht, was sie sagen sollen.

Es gibt in der katholischen Kirche die Pflicht, sonntags in den Gottesdienst zu gehen. Ist das demnach auch übergriffig?
Ja. Eine Gottesdienstteilnahme muss dem eigenen, freien Willen entspringen. Wenn es zur Pflicht wird, die einer sozialen Kontrolle unterliegt und mit Druckmitteln durchgesetzt wird, dann ist diese Freiwilligkeit infrage gestellt. Auch hier steckt die Idee dahinter, man könnte von aussen feststellen, dass jemand einen bestimmten Glaubensakt vollzogen hat. Das geht aber nicht. 

Dann schreibt das Kirchenrecht also spirituell missbräuchliches Verhalten vor. 
Ja, in der katholischen Kirche gibt es Normen und ein Kirchenbild, die diese Übergriffigkeit vorschreiben. Die Vorstellung, dass die kirchliche Autorität das Recht und die Pflicht hat, in das Innere der Menschen einzugreifen, um den Glauben zu schützen, ist tief in der Kirche verankert. Dies steht aber quer zu einem theologischen und seelsorgerlichen Konsens, der besagt, dass man Glaubensakte nicht erzwingen kann und dass Glaube überhaupt nur dort möglich ist, wo er aus freien Stücken vollzogen wird. 

Die katholische Kirche kennt also zwei widersprüchliche Traditionen?
Ja, wir haben eine autoritäre, tendenziell übergriffige Traditionslinie und wir haben eine freiheitliche, die das Gewissen und die Freiheit der Menschen respektiert. Diese beiden Linien sind inkompatibel. Dieser Widerspruch macht die Beschäftigung mit spirituellem Missbrauch so explosiv. Wenn man das Thema ernst nimmt, müssten kirchliche Normen revidiert werden. 

Wie kann Kirche dann als Gemeinschaft von Gläubigen bestehen, wenn jede*r glauben kann, was er oder sie will? Braucht es nicht eine Instanz, die den Glauben «hütet»?
Das sind zwei verschiedene Themen. Es geht einerseits um Glaubensinhalte, die wir als Gemeinschaft der Gläubigen der katholischen Kirche pflegen. Da ist durchaus eine Vielfalt vorhanden. Und doch gibt es Grenzen, wo man sagen kann: Das ist katholisch oder nicht, das ist christlich oder nicht.  
Aber wenn wir über geistlichen Missbrauch und Autonomie sprechen, geht es vor allem darum, dass Menschen ihr persönliches Glaubensleben frei führen dürfen. Wenn ein Mensch aufhört, in den Gottesdienst zu gehen oder eine bestimmte Gebetstradition zugunsten einer anderen beendet – wer hätte ein Recht, diese Person davon abzuhalten?

Oft hört man, sexuellem Missbrauch gehe spiritueller Missbrauch voraus. Können Sie das anhand eines Beispiels erläutern?
Ein typisches Beispiel wäre ein Priester, der eine geistliche Bewegung oder Gemeinschaft gründet. Er hat die Aura einer Gründerfigur und schreibt jungen Leuten in dieser Gemeinschaft eine Spiritualität vor, in der es darum geht, Grenzen zu überschreiten. Dinge aufzugeben, die man niemals hätte aufgeben wollen, weil Gott angeblich mehr von ihnen verlangt. Der Priester fordert dann zum Beispiel, dass ein Mitglied ein Familienfoto wegwirft, um nicht mehr innerlich daran gebunden zu sein. Auf solche geistlichen Übergriffe können sexuelle folgen: «Gott will, dass wir keine Grenzen voreinander haben. Du musst bereit sein, dich zu entkleiden, körperliche Berührungen zuzulassen.» Diese sexuellen Übergriffe funktionieren nur, weil vorher schon andere Grenzen überschritten wurden.

Kann spiritueller Missbrauch geahndet werden?
Wir haben keine vernünftigen kirchenrechtlichen Grundlagen, um Sanktionen zu ergreifen. Manche Übergriffe werden kirchenrechtlich sogar verlangt. Wir brauchen also eigentlich eine Revision kirchlicher Normen. Solange es die nicht gibt, braucht es zumindest eine Sensibilisierung und Qualitätsstandards in der Seelsorge: Es muss ganz klar sein, was geht und was nicht, wo es übergriffig oder missbräuchlich wird.

Das Bistum Basel verweist für Fälle spirituellen Missbrauchs an eine unabhängige Koordinationsperson, eine Rechtsanwältin. Diese ist verpflichtet, bei Verdacht auf ein Offizialdelikt den Bischof zur Strafanzeige aufzufordern. Für wie sinnvoll halten Sie dies? 
Spiritueller Missbrauch ist im weltlichen Recht an keiner Stelle geklärt. Hier muss erst eine grundlegende Klärung stattfinden. Zudem ist es eine Engführung, dass es um Straftaten gehen muss und Strafverfahren geführt werden müssen. Bei spirituellem Missbrauch ist das weder hilfreich noch nötig. Solche Verfahrenswege können leicht zu Frust führen, weil es dann heisst: «Das ist nicht relevant.» Dabei liegt bei spirituellem Missbrauch eine klare Verletzung vor, und es steht eine echte Gefahr durch die beschuldigte Person im Raum, mit der Vorgesetzte vorausschauend umgehen müssen. 

Braucht es also eigene Anlaufstellen für spirituellen Missbrauch? 
Es kann genügen, wenn man die Anlaufstellen für sexuellen Missbrauch so ausbaut, dass sie auch für spirituellen Missbrauch kompetent sind. Dazu braucht es theologisch und seelsorgerlich geschulte und pastoralpsychologisch ausgebildete Menschen. Allerdings brauchen auch diese Personen eine normative Grundlage, sodass man sagen kann, nach diesen oder jenen Kriterien definieren wir «Übergriff». 

Das Bistum Chur hat eine Charta zum Umgang mit Macht. Könnte das eine solche normative Grundlage sein?
Das ist ein erster, fundamentaler Schritt. Zu klären wäre dann noch, wie die Charta umgesetzt wird und wie sich dies in das Gesamtrecht der katholischen Kirche einfügt. 

Was wären aus Ihrer Sicht weitere nötige Schritte in der Prävention?
Der allerwichtigste Schritt wäre, dass die Kirche ihre eigenen Normen überdenkt, dass möglichst alle Vorgaben, welche Übergriffe in das Innenleben von Menschen normalisieren, abgeschafft werden. 

Das wäre eine Veränderung des Kirchenrechts, aber auch der Glaubenslehre.
Bei der Glaubenslehre bräuchte es eine klare Entscheidung für eine der beiden sich widersprechenden Traditionslinien. Die Kirche ist an einem historischen Entscheidungspunkt: Steht sie dafür, dass Menschen in die Spur gebracht werden müssen, notfalls mit Gewalt? Oder steht sie dafür, dass Menschen in Freiheit einen Glauben leben, der wirklich von Gott kommt, der gar keine Gewalt braucht? Die Entscheidung für Letzteres wäre notwendig, um wirksam Prävention zu betreiben.

Sehen Sie Ansätze, dass die Kirche sich in diese Richtung entwickelt?
Ich glaube, dass die Institution gar nicht in der Lage ist, sich in diese Richtung zu entwickeln. Und trotzdem entwickeln sich Teile der Kirche in diese Richtung. Es gibt ein echtes Auseinanderdriften der Kirche, das man beklagen kann, das aber unvermeidlich ist. Die Herausforderung wird sein, dass die Menschen, die in eine freiheitliche Richtung gehen wollen, sich selbst ein institutionelles normatives Gefüge geben müssen, aber eines, das dieser Freiheitlichkeit entspringt und sie trägt. 

Interview: Sylvia Stam/Red., 12.6.24
(Das vollständige Interview erschien am 26. April im «pfarrblatt» Bern.)
 

*Die Theologin Doris Reisinger (geb. Wagner, Jg. 1983) ist Autorin des Buches «Spiritueller Missbrauch in der katholischen Kirche» und Beraterin der Anlaufstelle «Gewalt in der Kirche» der deutschen Bischofskonferenz.

**Die Praxis zur Hinführung zum Sakramentenempfang ist im Bistum Basel nicht starr vorgeschrieben. In vielen Pfarreien wird das Sakrament der Versöhnung nach der Erstkommunion gefeiert. 


Erst am Anfang
«Beim Thema spirituelle Gewalt sind wir erst am Anfang», sagte Bischof Joseph Bonnemain laut dem Portal kath.ch an einer Fachtagung in Wien. Die Richtlinien der Schweizer Bischofskonferenz sollen dahingehend überarbeitet und ergänzt werden. «Das Bistum Basel konzeptioniert gerade Vertiefungsseminare, die die Prävention spiritueller Gewalt mitberücksichtigen», sagte Sieglinde Kliemen, Präventionsbeauftragte dieses Bistums, an derselben Tagung. Ansprechpersonen explizit für spirituellen Missbrauch kennt nur das Bistum St. Gallen. Das Bistum Basel verweist auf die unabhängige Koordinationsperson. Das Bistum Chur thematisiert spirituellen Missbrauch in seinem Verhaltenskodex. Betroffene werden auf das Fachgremium sexuelle Übergriffe, auf staatliche Opferhilfestellen und die Betroffenenorganisation IG-M!kU verwiesen. Diese unterstützt Betroffene auch bei spirituellem Missbrauch: www.missbrauch-kirche.ch
 

 

«In der katholischen Kirche gibt es Normen, die Übergriffigkeit vorschreiben», sagt Doris Reisinger.
Quelle: Andrea Schombara
«In der katholischen Kirche gibt es Normen, die Übergriffigkeit vorschreiben», sagt Doris Reisinger.

 

 

Spiritueller Missbrauch liegt vor, wenn eine seelsorgende Person fordert, Dinge aufzugeben, die man sonst nie aufgeben würde, und dies als Gottes Wille bezeichnet.
Quelle: Manuela Matt
Spiritueller Missbrauch liegt vor, wenn eine seelsorgende Person fordert, Dinge aufzugeben, die man sonst nie aufgeben würde, und dies als Gottes Wille bezeichnet.

Kommentare

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Roger Nünlist, lic.theol.

17.06.2024, 8:37

Liebe Frau Reisinger, ich habe genau eine solche Geschichte mit dem Beichten erlebt (vor der Erstkommunion), wie sie sie schlidern. Ich bin als einziger heulend durch die Kirche gerannt, weil ich so Angst hatte vor dem Beichten. Ich habe dann von einer Ktechtetin und dem zuständigen Priester, den man auswählen konnte, viel Verständnis und Zuwendung erlebt.
Ich hatte eine solche Panik vor dem Beichtstuhl, der Enge und der Dunkelheit und auch Panik davor, was ich denn sagen soll und Angst vor dem Mann und Priester, den ich nicht recht sehen konnte.
Aber ich habe das in keinster Weise als spirituellen Missbrauch erlebt!
Im Gegenteil ... zuletzt hatte ich es auch geschafft und war recht stolz darauf!
Ich möchte diesen Lernprozess bis heute nicht missen. Er hat mir später auch den Sinn für die Beichte erschlossen.
Nur weil ein Kind das nicht möchte, heisst es nicht, dass ein spiritueller Missbrauch vorliegt oder stattfindet. Zwang, Nötigung, Übergriffe etc. sind was anderes. Wenn man Kindern hilft ihre Angst zu meistern, ist das m.E. wesentlich mehr wert, als immer nur darauf einzugehen, was man möchte oder nicht möchte. Mit dieser Haltung war ich als Kind in einer weitgehend Antiautoritärenerziehung oft überfordert und fühlte mich im Stich gelassen.
Kann es sein, dass sie alles durch ihre eigenen Geschichte lesen und aus dieser Prinzipien erheben? Liebe Grüsse Roger Nünlist, lic.theol.

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