Mediation und Konfliktanalyse
Ukraine, Palästina, Sudan: Damit beginnt die Liste der aktuell kriegsbetroffenen Länder und hört dort längst nicht auf. Doch es gibt Hoffnung: Menschen und Institutionen, die sich um friedliche Lösungen bemühen, Konflikte analysieren und erforschen, womit Frieden gebaut und erhalten werden kann. Unter ihnen Simon J. A. Mason vom Center for Security Studies an der ETH Zürich.
«Trust» steht auf dem Klebenotizzettel, der auf der Scheibe des kleinen, vollgestopften Büros im ETH-Gebäude am Haldeneggsteig 4 in Zürich klebt. Der Tisch ist belegt mit bunten Riesenklebenotizzetteln in Leuchtfarben, und auf dem Schreibtisch steht eine grosse Kaffeetasse in den Nationalfarben Simbabwes. In diesem Büro wird Frieden unterstützt, Frieden erforscht und Friedensvermittler werden gecoacht. Hier arbeitet Dr. Simon J. A. Mason, Senior Researcher und Leiter des Mediation Support Team am Center for Security Studies der ETH Zürich. Zusammen mit dem Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten beteiligt sich das Center am Projekt «Culture and Religion in Mediation» CARIM.
Masons Arbeit besteht einerseits in der Ausbildung von Diplomat*innen und Vertretenden von Konfliktparteien in Verhandlungsmethodik und Mediation, anderseits aus der angewandten Forschung zu Konfliktmediation: Was kann man von Praktizierenden lernen und mit der Theorie zusammenbringen? Zudem analysiert er in Workshops gemeinsam mit Vertretenden von Verhandlungsparteien deren Konflikte. Bei seiner Arbeit erfährt er viel praktisches Wissen wie auch andere Vorgehensweisen, die es wert sind, weitergegeben zu werden.
«Je mehr die Welt polarisiert ist, desto mehr Gefässe braucht es, um andere zu verstehen», findet Simon Mason. Tatsächlich scheint die Welt solche Arbeit bitter nötig zu haben.
Konflikte flammen wieder auf
Denn die Lösung gewaltsamer Konflikte, inklusive Wiederherstellung von Frieden, ist ein komplexer und langfristiger Prozess: Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges dauern Bürgerkriege im Durchschnitt sieben bis zwölf Jahre und damit viermal länger als Kriege zwischen zwei verschiedenen Ländern. Ausserdem gibt die Statistik Anlass zur Annahme, dass Konflikte eher wieder aufflammen, als dass sie neu entstehen oder dauerhaft gelöst werden. Zudem haben bewaffnete Konflikte mit religiöser Dimension in den vergangenen Jahren weltweit zugenommen. Ein wichtiger Grund dafür ist allerdings auch, dass Konflikte ohne religiöse Komponente abgenommen haben. «Religiöse Dimension» bedeutet nicht zwingend, dass die Religion den Kern des Konfliktes bilden muss, und auch nicht, dass zwei Weltreligionen sich bekämpfen. Es bedeutet aber, dass religiöse und damit weltanschauliche Themen mit im Spiel sind.
Religion als Faktor lange ignoriert
Bei westlichen Politiker*innen war es weit verbreitet – und ist es teilweise noch immer –, die Rolle der Religion in Konflikten völlig zu ignorieren. Die vorherrschende Haltung dabei war beziehungsweise ist, die Religion sei für die Konfliktlösungsbemühungen irrelevant oder nicht kontrollierbar. Allerdings fühlen sich 80 % der Weltbevölkerung einer religiösen Gruppierung zugehörig, was impliziert, dass Religion ein wichtiger Faktor bei einer Konfliktanalyse sein kann.
Untersuchungen deuten darauf hin, dass Konflikte mit religiöser Dimension hartnäckiger sind als andere und weniger wahrscheinlich durch Friedensvereinbarungen gelöst werden können. Gründe dafür sind, dass ganz unterschiedliche Weltbilder aufeinanderprallen und dass es zu schwerwiegenden Missverständnissen unter den Parteien kommen kann, weil gleiche Begrifflichkeiten Unterschiedliches bedeuten. Kommt dazu, dass es um Ziele gehen kann, die so essenziell sind für eine religiöse Gruppierung, dass sie lieber lange Wartezeiten in Kauf nimmt, als «faule Kompromisse» einzugehen.
Zu beachten ist allerdings, dass Religion an sich nicht das Problem sein muss. Rund um den Erdball gibt es Beispiele friedlicher Koexistenz unterschiedlicher religiöser Gruppierungen. Die Schweiz ist selbst ein solches, leben doch hierzulande nach Beilegung des Konfliktes der Konfessionen Katholische und Reformierte friedlich Tür an Tür, und die Verfassung garantiert Religionsfreiheit.
Religion als Identitätsstiftung
Allerdings können Agitatoren aufgrund der identitätsstiftenden Komponente von Religionen ihre Anhängerschaft mobilisieren und auf das Anderssein der Gegenpartei verweisen. Simon Mason zitiert hierfür Dekha Ibrahim Abdi, eine kenianische Friedensaktivistin, mit der er zusammen ein Buch geschrieben hat: «Wenn der Staat alle Bürger gleich behandeln würde, würden sich diese nicht auf die Gruppenidentität zurückziehen. Aber wenn der Staat eine Gruppe anders behandelt, tut sie genau dies. Das verstärkt ein System, in dem der Staat einzelne ungleich behandelt. Es ist schwierig, aus dieser Dynamik herauszukommen, weil man die Gruppenidentität braucht, um sich zu schützen.»
Man könne aktuell in Europa beobachten, wie ein Rückzug auf den Nationalismus stattfinde. Der Schutz komme von der Gruppe oder der Nation und nicht vom staatlichem Rechtssystem oder dem internationalen System Europa. Das sei verständlich, aber gefährlich, warnt Mason. «Man muss handfeste Dinge fördern wie Ausbildungen, Existenzgrundlagen für alle und dergleichen. Religion darf nicht als Ausrede hinhalten, diese Dinge nicht anzugehen.»
Regel Nr. 1: nicht urteilen
Über welche Eigenschaften muss eine Mediationsperson eigentlich verfügen? Simon Mason: «Sie sollte nicht urteilen. Dies bedeutet nicht, dass sie mit allem einverstanden sein muss.» Vielmehr heisse dies, dass sie die Ziele, Bedürfnisse und die Wertesysteme zu verstehen versuche. «Das ist ein grosser und schwieriger Schritt. Er ist die Voraussetzung für Überlegungen, ob es Raum gibt für Dialog, Verhandlungen oder Mediation.» Ein Gedanke, der dabei helfe, nicht zu urteilen, sei die Unterscheidung zwischen Akteur und Aktion. Mason zitiert dafür den Dalai Lama: «Wenn es um eine Aktion geht, muss man sich widersetzen. Aber wenn es um den Akteur geht, darf man keine negativen Gefühle entwickeln und sollte eine mitfühlendere Haltung einnehmen.» Oder mit Lukas 6,37: «Richtet nicht, dann werdet auch ihr nicht gerichtet werden! Verurteilt nicht, dann werdet auch ihr nicht verurteilt werden!»
Wichtig: zuhören
Und noch eine wichtige Fähigkeit sollte die Mediationsperson auszeichnen: das Zuhören. Denn das Wichtigste sei die Sicht der Konfliktparteien auf den Konflikt. «Wir können von den Konfliktparteien nicht erwarten, dass sie die andere Seite verstehen, bevor wir sie selbst gehört haben.» Zudem müsse man als Mediator die Leute dort abholen, wo sie seien, und dafür mit allen reden. Auch die unterschiedlichen Perspektiven innerhalb einer Konfliktpartei seien wichtig, betont Simon Mason. So würden sich die Verhandlungen im Nahen Osten deshalb so schwierig gestalten, weil auch die verschiedenen Konfliktparteien untereinander stark zersplittert seien.
«Der Grundansatz eines Mediators lautet, zu versuchen, einen Konflikt aus allen Perspektiven zu verstehen, und zu schauen, ob es auf dieser Basis eine nichtmilitärische Lösung gibt.» Die Motive, Werte, Ängste, Hoffnungen etc. hinter den Positionen der Parteien zu verstehen, sei essenziell. Denn deren Verständnis helfe beim Versuch, mögliche Lösungswege zu formulieren. Es unterstütze auch bei der Suche nach Wegen, die für beide Parteien akzeptabel sind – und auf beiden Seiten als Gewinn dargestellt werden können.
Konflikt aus allen Perspektiven verstehen
Die Analyse eines Konfliktes ist komplex; es gibt viele Faktoren, die mitspielen. Wie geht Simon Mason vor? «Ich unterteile in vier Ebenen», erklärt er. «Die Akteure, die Inhalte, den Kontext und die Prozesse. Es hilft mir enorm, wenn ich ein grobes Ziel kenne, bevor ich subjektive und objektive Information zu diesen Ebenen zusammentrage. Denn dies wird den Prozess stark beeinflussen.» Zusätzlich gilt es, Fragen zu klären, wie ein Zusammenspiel zwischen diesen Faktoren stattfinden kann. – Durch dieses Vorgehen erhält man ein Cockpit für eine Analyse. «Da Konflikte dynamisch sind, muss man das Cockpit immer wieder aufdatieren», erläutert Mason.
Neue Dynamik im Nahen Osten?
Und wie schätzt Simon Mason - aufgrund seiner Analysen - die Auswirkungen der Hamas-Attacke vom 7. Oktober 2023 und die darauffolgende Offensive Israels auf die Friedensbemühungen ein? «Ein Gedanke ist, dass der Schock darüber eine neue Dynamik auslösen könnte, die zeigt, dass man anders mit der Situation umgehen sollte. Ähnlich wie nach dem Zweiten Weltkrieg, als man sagte, so etwas dürfe nie wieder vorkommen», sagt Mason. «Ein anderer ist, dass das Vertrauen zwischen Israelis und Palästinensern noch mehr kaputtgegangen ist und die Situation noch schwieriger wird.»
Viele Grundsätze der Mediation sind nicht neu. Sie finden sich in der Bibel, im Koran und in anderen heiligen Schriften, betont Simon Mason. So steht in Matthäus 5,23-24: «Wenn du deine Opfergabe zum Altar bringst und dir dabei einfällt, dass dein Bruder etwas gegen dich hat, so lass deine Gabe dort vor dem Altar liegen; geh und versöhne dich zuerst mit deinem Bruder, dann komm und opfere deine Gabe!»
Anja Eigenmann, 10.7.24
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