Die neue Enzyklika über Geschwisterlichkeit
Mit der Enzyklika «Fratelli tutti» reicht Franziskus über den Rand der katholischen Kirche hinaus und stellt sich in eine Reihe von Visionären wie Martin Luther King und Mahatma Gandhi. Das wird nicht jedem schmecken.
Der Papst träumt: Es müsse eine Welt möglich sein, in der sich Menschen als Brüder und Schwestern anerkennen, Konflikte im Dialog lösen und auf dem Weg der Entwicklung niemanden zurücklassen, sondern allen Raum zur Mitgestaltung geben. Das sei «keine pure Utopie». Mit der Hoffnung seiner 83 Jahre hat Papst Franziskus seine Vision den katholischen Gläubigen und der gesamten Welt als Lehrschreiben vorgelegt. Einen «demütigen Beitrag zum Nachdenken » nennt Franziskus seine Enzyklika. Doch was ihn dazu antreibt, wiegt schwer: die globale Ungleichverteilung von Ressourcen und Chancen, die Ausgrenzung ganzer Schichten und Nationen, eine ungebrochene Tendenz, Eigeninteressen den Vorzug vor Solidarität zu geben.
Deutliche Geste zum IslamDie Covid-Pandemie hat es für den Papst als trügerische Illusion entlarvt, «zu glauben, dass wir allmächtig sind, und zu vergessen, dass wir alle im gleichen Boot sitzen». Zu seinem Plädoyer für «Geschwisterlichkeit und soziale Freundschaft», wie die 150-seitige Schrift im Untertitel heisst, liess sich Franziskus von Ahmad Al-Tayyeb anregen, dem Grossimam der Kairoer Al- Azhar-Universität, mit dem er 2019 in Abu Dhabi ein «Dokument über die Brüderlichkeit aller Menschen» unterzeichnete. Eher unüblich für die Vorstellung einer päpstlichen Enzyklika, sass am 4. Oktober der Scharia-Gelehrte Mohamed Abdel Salam auf dem Podium. Er bekannte sich als Muslim «in Einklang mit dem Papst». Franziskus selbst nennt Nichtkatholiken wie den US-Bürgerrechtler Martin Luther King, den südafrikanischen Anglikaner Desmond Tutu und Mahatma Gandhi als Inspirationsquellen. Allein das dürfte ultrakonservativen Katholiken reichen, um den Papst abermals der Häresie zu bezichtigen. Dabei ist das, was er sagt, grösstenteils nicht neu und steht in der Tradition seiner Vorgänger.
Alte Systeme als HolzwegFranziskus wirbt dafür, nach dem Vorbild des heiligen Franz von Assisi (1181/82– 1226) andere Menschen unabhängig von Herkunft oder sozialer Zugehörigkeit in freundschaftlicher Offenheit «anzuerkennen, wertzuschätzen und zu lieben». Wer meine, die globalen Probleme nach der Corona-Krise mit den alten Systemen lösen zu können, sei «auf dem Holzweg». Hatte er in seiner Umweltenzyklika «Laudato si» 2015 den Blick auf die Erde als «gemeinsames Haus» gelenkt, das es für künftige Generationen zu erhalten gelte, so skizziert er in «Fratelli tutti» die Umgangsregeln für die Hausbewohner. Eine Kerneinsicht, die nicht zuletzt aus seiner Spiritualität als Jesuit schöpft: Was den Menschen ausmacht, bestimmt sich nach seinem Verhältnis zu den Mitmenschen. Von dort aus dekliniert der Papst Selbstbezogenheit als Grundübel und ihr Heilmittel, liebende Öffnung, auf allen Ebenen durch. Wie in früheren Äusserungen wendet er sich gegen das Diktat von Profit- und Machtinteressen.
Ein Nein zum verkappten KolonialismusGegen die Armut und Ausgrenzung hilft ihm zufolge nur eine echte Beteiligung der betreffenden Personen und Gruppen an gesellschaftlichen Gestaltungsprozessen. Eine Hilfe, die neue Abhängigkeiten schafft oder kulturelle Identitäten der Völker missachtet, lehnt er als verkappten Kolonialismus ab. Zur Lösung von Konflikten setzt Franziskus auf Dialog und internationale Vermittlung. Nationale Interessen haben sich dem globalen Gemeinwohl unterzuordnen. Die Rolle der Vereinten Nationen will der Papst gestärkt sehen, Krieg und Rüstung als Mittel der Politik weist er rigoros zurück. Zum Thema Migration betont Franziskus, solange in den Herkunftsländern die Bedingungen für ein Leben in Würde fehlten, gelte es das Recht eines jeden Menschen zu respektieren, einen Ort für die Verwirklichung seiner Person zu finden. Jedes Land sei «auch ein Land des Ausländers». Die Güter eines Territoriums dürften «einer bedürftigen Person, die von einem anderen Ort kommt, nicht vorenthalten werden». Unterschiedliche Kulturen sieht er dabei nicht als Hindernis, sondern als Bereicherung. Papst Innozenz III. träumte vom heiligen Franz von Assisi, der die wankende Kirche stützt. Giotto malte die Szene in einem berühmten Fresko in der Basilika San Francesco in Assisi. Der heutige Papst träumt, wie eine Welt, die immer mehr aus den Fugen gerät, von Gläubigen aller Religionen und auch Nichtglaubenden gestützt wird.
Burkhard Jürgens/Red, 20.10.20
Kommentare