Vielzahl an Fällen überschattet Glaubwürdigkeit der Kirche
Die Kirche steckt existenziell in der Krise. Tausende von Missbrauchsfällen werden bekannt. Es geht um Übergriffe von Priestern und Ordensleuten besonders an Kindern und Nonnen. Langsam hört die Kirche die Opfer und schützt nicht länger die Täter.
In der römisch-katholischen Kirche ist das Thema Missbrauch seit Jahren allgegenwärtig. Doch nach dem ersten vatikanischen Gipfeltreffen im vergangenen Februar beklagen viele Opfer und Kommentatoren den fehlenden Willen zur Veränderung. Dem widerspricht der Jesuit Hans Zollner, Leiter des Kinderschutzzentrums an der päpstlichen Universität Gregoriana in Rom. So hätten afrikanische und asiatische Bischöfe behauptet, Missbrauch gebe es bei ihnen nicht. «Diese Einschätzung haben viele Teilnehmer aus diesen Ländern inzwischen revidiert.» Und mindestens in westlichen Kirchen werden die Opfern zunehmend ernstgenommen und erhalten finanzielle Hilfe – wenn auch oft in bescheidenem Rahmen.
Kirche über allesDie Kirche hat lange das oft lebenslange Leid der Opfer nicht ernst genommen und die Täter geschützt. Zunehmend kommen diese nun aber vor Gericht oder werden bekannt. Kardinal Philippe Barbarin, Erzbischof von Lyon, ist im März wegen Missbrauchsvertuschung zu sechs Monaten Haft auf Bewährung verurteilt worden. In der Folge lehnte der Papst sein Rücktrittsgesuch zwar ab, doch Barbarin lässt sein Amt für eine unbestimmte Zeit ruhen. In der Studie der Deutschen Bischofskonferenz 2018 finden sich 3677 Opfer und 1670 Täter. «Diese Zahl stellt eine untere Schätzgrösse dar», heisst es dort. 4,4 Prozent aller Kleriker sollen im genannten Zeitraum Minderjährige sexuell missbraucht haben. Die Opfer, meist männlich, waren zur Hälfte jünger als 14 Jahre. Dreiviertel der Betroffenen hatten mit den Beschuldigten eine kirchliche oder seelsorgerische Beziehung. In der Schweiz wurden bis jetzt 250 Missbrauchsfälle von 200 Priestern und Personen im kirchlichen Umfeld gemeldet; davon betreffen mindestens 25 die letzten sieben Jahre. Polen, Irland, Italien, USA, Südamerika, Australien – die Liste ist erschreckend lang.
Die letzte Gruppe, die in den Fokus geriet, sind die Nonnen. Dass viele missbraucht wurden und werden, bestätigte auch der Papst vor kurzem. Kommt es zu Schwangerschaften, werden die Frauen aus den Klöstern entfernt oder zu Abtreibungen gezwungen. Zum Thema legt der Dokumentarfilm «Gottes missbrauchte Dienerinnen» von Eric Quintin und Jean Marie Raimbault davon ein erschütterndes Zeugnis ab.
Der St. Galler Staatsanwalt Elmar Tremp ist Mitglied des Fachgremiums «Sexuelle Übergriffe im kirchlichen Umfeld» der Schweizer Bischofskonferenz. Es sei in den letzten Jahren vieles in Bewegung gekommen, erklärt er in einem Interview; schwerwiegende Fälle kommen eher vor staatliche Gerichte. Trotzdem hätten in der Kirche auch heute noch nicht alle wirklich den Ernst der Lage erkannt. «Oft verstehen Kirchenleute nicht, wann ein Verdacht ein Offizialdelikt ist, der vom Staat untersucht werden muss.» Meldet ein Bischof ein Offizialdelikt nicht, macht er sich möglicherweise strafbar. Bei Übergriffen auf Minderjährige muss die Kirche zwingend die Justiz einschalten. Ist der Verdacht ausreichend, erfolgt beim mutmasslichen Täter eine Hausdurchsuchung und eine Untersuchung der Computer etc. Vielleicht findet man dabei neben Bildern des Opfers in eindeutiger Situation auch solche von zahlreichen anderen. «Man stelle sich vor, man wäre nicht eingeschritten», so der Staatsanwalt. Erwachsene Opfer wünschen nicht selten keine Anzeige. Dann wird kirchenintern untersucht. Ausser in gravierenden Fällen bleibt das Ganze dann oft auf dieser Ebene. Tremp sieht hier ein Problem. Strafverfolger können sich nicht auf die Meinung des Opfers stützen. Es könnten ja weitere Opfer betroffen sein, und die müsse man, wenn möglich, schützen.
Die Kirche steht vor grossen Herausforderungen, will sie ihre Glaubwürdigkeit nicht verlieren. Sie muss die Taten und die Vertuschung aufklären, die Täter, wenn möglich, vor Gericht bringen, die Sexualmoral und Machtstrukturen untersuchen und ändern sowie die Frage des nicht-biblischen Pflichtzölibats angehen.
Christiane Faschon (8.4.19)
Die Missbrauchsfälle in der Kirche stehen im krassen Widerspruch zum liebenden Einsatz Jesu für die Menschen.
Bild: pixabay.com
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