Leben unter den Taliban
Im Schatten des Ukraine-Kriegs gerät die prekäre Situation in Afghanistan fast in Vergessenheit. Seit der Machtübernahme der Taliban (forumKirche 18/2021) hat sich die Lage vor Ort weiter zugespitzt – vor allem für Frauen und Mädchen. Zudem leiden viele Menschen an Hunger. Das berichtet Michael Kunz vom Verein Afghanistanhilfe in Schaffhausen im Interview.
Im August 2021 haben die Taliban die Macht in Afghanistan übernommen. Hat sich die Situation für Mädchen und Frauen im Land zugespitzt?
Im Bereich Bildung gibt es weiterhin Einschränkungen für Mädchen. Älteren Schülerinnen ab der 7. Klasse wurde ein Schulverbot auferlegt. Für gewisse Schulhäuser in einzelnen Gebieten konnten wir jedoch eine Ausnahmeregelung erzielen. Hier dürfen Mädchen bis zur 9. Klasse oder sogar bis zur 12. Klasse in die Schule gehen, unter der Bedingung, dass sie eigene Schulgebäude nutzen können. In den Waisenhäusern mussten wir Zusatzfächer wie Sport, Literatur und Menschenrechtskurse fast ausnahmslos einstellen oder dürfen sie fortan nur noch für Jungen anbieten. Das Leben der afghanischen Frauen spielt sich wieder hauptsächlich in ihren Häusern ab. Ohne männlichen Begleiter dürfen sie dieses nicht verlassen. Es ist eine überaus schwierige Situation.
Wie steht es um die Grundversorgung im Land?
Nicht gut. Es gibt über 20 Millionen Menschen im Land, die an Hunger leiden. In den letzten vier Monaten haben wir über 200 Tonnen Lebensmittel an Bedürftige verteilt – über unsere lokalen Partner in den verschiedenen Provinzen. Der Verlust der Arbeitsstellen und der wirtschaftliche Zusammenbruch haben die Lebensmittelpreise mehr als verdoppelt. Viele Menschen verkaufen ihr gesamtes Hab und Gut, ihre Häuser und sogar ihre Kinder, um den Lebensunterhalt zu bestreiten.
Wie geht es den Menschen vor Ort?
Es ist eine Hoffnungslosigkeit eingetreten. Vor allem bei den Nicht-Paschtunen, die das Land verlassen wollen oder dies schon getan haben, weil sie keine Zukunft für sich und ihre Kinder in Afghanistan sehen. Uns wird berichtet, dass die Taliban nun vermehrt gegen unliebsame Personen vorgehen: Ehemalige Regierungsvertreter und Angehörige der Polizei sowie Menschenrechtsaktivisten werden verhaftet. Was mit ihnen passiert, können wir nicht abschliessend beurteilen. Die anfänglichen Versprechungen der Taliban, dass es keine Vergeltungsschläge geben wird, haben sich eindeutig als Lüge erwiesen. Im Frühjahr werde ich mit weiteren Vertreter*innen der Afghanistanhilfe nach Afghanistan reisen, damit wir uns von der Situation selbst ein Bild machen können.
Wie geht es weiter? Was für ein Szenario sehen Sie als wahrscheinlich an?
Dass sich vorerst nichts ändert. So lange die Taliban-Hardliner an der Macht sind, kann auch der Westen nichts ausrichten. Es ist durchaus möglich, falls sich die Situation für die Menschen weiterhin verschlechtert, dass sich Widerstand aus der Bevölkerung formiert. Das wäre aber eine schlechte Option, weil daraus ein Bürgerkrieg erwachsen könnte. Als Kraft gegen die Taliban erachte ich es als die beste Chance, dass auf lange Sicht und durch den Schlüssel der Bildung eine starke Zivilgesellschaft etabliert wird. Aber ich bin auch schon hoffnungsvoller gewesen.
Interview: Sarah Stutte, forumKirche, 26.04.2022
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