Zur Lage in Afghanistan
Am 26. September ist Welttag der Migrant*innen und Flüchtlinge. In den Fokus rückt aktuell die Frage um die Zukunft der Menschen in Afghanistan nach der Machtübernahme der Taliban. Michael Kunz vom Verein Afghanistanhilfe in Schaffhausen berichtet im Interview, wie es den Menschen vor Ort geht und versucht einzuschätzen, ob es zu einer grossen Flüchtlingswelle kommen wird.
Welche Projekte betreuen Sie als Verein in Afghanistan?Wir engagieren uns in fünf verschiedenen Provinzen. In der Region Hazaradschat in Daikondi, Bamiyan und Ghazni sowie in den zwei paschtunischen Provinzen Paktia und Chost. Dort sind wir in den Bereichen Bildung, Gesundheit, Nothilfe und Armutsbekämpfung tätig. Zum einen betreiben wir rund ein Dutzend Kliniken in diesen Gebieten und ermöglichen dadurch den teilweise sehr abgelegenen Ortschaften eine medizinische Grundversorgung. Zusätzlich unterhalten wir ein grosses Spital in der Provinz Ghazni, in dem jährlich rund 50'000 Patienten behandelt werden. Des Weiteren bauen wir Schulen und leiten drei Waisenhäuser mit rund 200 Kindern, die einen oder beide Elternteile verloren haben oder aus Gründen von Armut und Krieg an uns überstellt worden sind. Wir leisten zudem Nothilfe an Witwen und Familien, die ihren Lebensunterhalt nicht selbst bestreiten können, indem wir schon seit vielen Jahren Schafe verteilen. Durch die Wolle und die Produkte zum Eigengebrauch können diese Menschen überleben. Zurzeit leisten wir auch Nothilfe, indem wir Lebensmittel verteilen.
Sind diese Einrichtungen jetzt gefährdet?Indirekt. Die Kliniken werden von unseren lokalen Partnern erstellt und betrieben und durch uns direkt finanziert. Die Schulen werden von uns gebaut, den Betrieb übernimmt aber die Regierung. Das bedeutet, dass sich bei den Gesundheitseinrichtungen der Einfluss der Taliban wenig bemerkbar macht. Anders gestaltet es sich bei den Schul- und Waisenhäusern. Einige unserer Kontakte vor Ort meldeten uns, dass Mädchen entführt und versklavt werden. Weil wir diese Meldungen nicht prüfen können und daher die Gefahr nicht ausschliessen, haben wir unsere Waisenhäuser vorsorglich aufgelöst und alle Kinder mit einer noch vorhandenen Familienstruktur in Privathaushalte zurückgeschickt. Unser lokaler Partner steht in Kontakt mit den Familien und wir unterstützen sie weiterhin finanziell. 50 bis 60 Kinder haben aber keine solchen familiären Bindungen mehr und befinden sich nun zusammen in einem Waisenhaus.
Kann Ihr Verein seine Aufgaben im Land weiterhin wahrnehmen?Ja, die Frage ist nur auf welche Weise. In den Schulen wird es Direktiven geben, die noch nicht bekannt sind. Es ist möglich, dass die Lerninhalte in Zukunft fundamentalistischer ausgerichtet sein werden. Neben der Vermittlung von Grundwissen haben wir den Kindern in den Waisenhäusern bisher auch gewisse Werte mitgegeben. Vermutlich dürfen wir das nicht mehr. Unsere lokalen Partner stehen in Kontakt mit den örtlichen Taliban-Vertretern und werden sicher noch weitere Gespräche führen, um genau herauszufinden, inwiefern die gegenteiligen Vorstellungen miteinander vereinbar sind. Im Moment befinden wir uns im Modus Abwarten und Abwägen, bis die neue Regierung steht.
Was passiert, wenn die Lerninhalte künftig konträr zur Einstellung des Vereins stehen?Dazu gibt es jetzt schon interne Diskussionen. Wenn die Taliban vorgeben würden, dass es für Mädchen grundsätzlich keine Bildung mehr gäbe, müssten wir uns entscheiden, ob wir weiter Schulen nur für Jungen bauen oder überhaupt keine mehr. Persönlich finde ich, dass es gerade in einer solchen Kultur wichtig ist, auch den Jungen Bildung zu vermitteln, damit sie sich nicht den Taliban anschliessen. Wir versuchen pragmatische Lösungen zu finden, die immer das Endergebnis im Blick haben.
Wie geht es den Menschen vor Ort, mit denen Sie in Kontakt stehen?Es herrscht eine grosse Angst und Hoffnungslosigkeit. Viele hatten auf die Rettungsflüge gesetzt, um das Land verlassen zu können. Diese Möglichkeit gibt es jetzt nicht mehr. Wir fokussieren uns auf die Unterstützung vor Ort, nehmen aber gleichzeitig unsere Verantwortung wahr, wenn wir von Fällen hören, in denen Menschen akut bedroht werden. Diese versuchen wir dann in Sicherheit zu bringen.
Von welchen Fällen hören Sie denn?Beispielsweise, dass jemand in Jeanshosen auf den Bazar gegangen ist und dafür von den Taliban mit der Eisenstange verprügelt wurde. Oder davon, dass viele Frauen sich momentan zu Hause eingeschlossen haben und sich nicht mehr vor die Türe trauen. Diejenigen, die es trotzdem wagen, werden ebenfalls angegriffen, wenn sie nicht entsprechend gekleidet sind. Wir hörten auch von SMS-Morddrohungen gegenüber einem lokalen Mitarbeiter, können aber von der Schweiz aus nicht genau nachprüfen, wie stark die Gefahr für die betroffene Person wirklich ist.
Kritische Stimmen warnen vor einem völligen Zusammenbruch der Grundversorgung im Land. Wie schätzen Sie das ein?Einen Überblick über die Versorgungslage habe ich nicht. Wir bekommen Rückmeldungen, dass Lebensmittel teurer werden und auch weniger gut organisierbar sind. Ein weiteres Problem ist derzeit, dass die afghanischen Banken geschlossen sind und es schwierig ist, Geld zu überweisen. Uns wird ferner gemeldet, dass es viele intern Vertriebene gibt. Diese Menschen schlafen teilweise auf der Strasse oder im Park und haben nichts zu essen. Dort setzen wir auf die Nothilfe, verteilen Lebensmittel und Zelte, wo es möglich ist. Es sieht ganz danach aus, dass in Afghanistan noch eine Hungersnot im Anmarsch ist, der wir – in unserem bescheidenen Umfang – zu begegnen versuchen.
Was droht den afghanischen Mädchen und Frauen nach der Machtergreifung der Taliban?Sie werden wieder ins Haus verbannt und müssen unter der Scharia leben. Sie können angstfrei nur noch verhüllt nach draussen und in Begleitung eines Familienmitglieds. Ihnen werden Rechte aberkannt, die in den letzten zwanzig Jahren für sie erkämpft wurden. Damals durften Mädchen im Gebiet Hazaradschat nicht in die Schule. Jetzt sind dort in jedem unserer Schulhäuser mehr als die Hälfte Schülerinnen. Ein Riesenerfolg. Ich hoffe immer noch, dass Mädchen weiterhin bis mindestens zur 12. Klasse in die Schule gehen können und damit eine Grundbildung bekommen. Aber es kann auch gut möglich sein, dass ihnen ein Studium verweigert wird und sie damit keine Chancen haben werden, einen höheren Beruf zu erlernen. Afghanistan macht einen grossen Schritt zurück. Wir müssen nun mit dem Tempo des Landes gehen, versuchen dabei aber in die richtige Richtung zu laufen.
Im Land leben auch einige tausend konvertierte Christen. In welcher Gefahr befinden sie sich?Es ist nach wie vor sehr gefährlich für sie. Konvertiert sein und erwischt werden, ist oft ein Todesurteil. Vor allem im Paschtunengebiet, denn viele Paschtunen sind sehr strenggläubig. Als Hilfsorganisation sind wir vor Ort stets neutral, um uns keiner Gefahr auszusetzen. Anfangs gingen die Taliban davon aus, dass wir in den Waisenhäusern missionieren und wollten deshalb unsere Einrichtungen schliessen. Doch diesen Vorwurf konnten wir widerlegen. Die Christen im Land bewegen sich im Verborgenen, niemand bekennt sich hier offen zum Christentum.
Was ist von den Versprechungen der Taliban-Führer zu halten, die Bevölkerung nicht zu bestrafen und jede*n, der*die mit einer Genehmigung das Land verlassen möchte, auch wirklich ziehen zu lassen?Meiner Einschätzung nach ist das eine Lüge. Zwar sprechen die Taliban nach aussen hin nun scheinbar eine fortschrittliche Sprache, das ist aber mehr Schein als Sein angesichts der Berichte, die uns aus den einzelnen Ortschaften erreichen. Man darf allerdings auch nicht vergessen, dass momentan immer noch Kriegszustand herrscht und es ganz viele verschiedene Gruppierungen gibt. Anders als die afghanischen, zeigen vor allem die pakistanischen Taliban wenig Sympathie für die lokale Bevölkerung und gehen brutaler vor. Sobald eine Regierung gebildet ist und die Strukturen einigermassen stabil sind, denke ich schon, dass eine gewisse Sicherheit wiederhergestellt werden kann. Natürlich zu einem sehr hohen Preis, nämlich der Umsetzung der Scharia.
Wird es zu einem massiven Flüchtlingsstrom kommen?Der Wunsch, das Land zu verlassen, ist zurzeit gross. Die Frage ist, wie viele ein solches Vorhaben tatsächlich realisieren. Meistens zeigen sich grosse Fluchtbewegungen nach einer Machtübernahme nicht unmittelbar, sondern erst nach zwei bis drei Jahren, wenn abzusehen ist, dass sich die Lage nicht stabilisieren wird. Viele werden wohl erst einmal abwarten, wie sich das Land bewegt. Eine Flucht ist immer gefährlich. Noch dazu ist es derzeit schwer, nur schon bis zur Grenze zu kommen, die Menschen werden wieder zurückgeschickt. Nachbarländer wie Pakistan und der Iran haben in den letzten Jahren aus vorangegangenen Krisen bereits Millionen von Flüchtlingen aufgenommen. Wenn sie keine Hilfe aus dem Ausland erwarten können, werden sie wohl nicht bereit sein, noch mehr Menschen aufzunehmen.
Wie geht es den Afghanen, die derzeit in der Schweiz leben?Sie sind doppelt verzweifelt. Zum einen sind sie nicht in der Lage, etwas an der Situation zu ändern, zum anderen haben sie bisher keine Möglichkeiten, ihre Familien nachzuholen. Das zerreisst viele. Umso wichtiger finde ich, dass die westlichen Staaten nicht ihr ganzes Personal abziehen, sondern mit ihren Organisationen in Afghanistan bleiben und dort Not- und Entwicklungshilfe leisten. Gerade jetzt, in einem solch fragilen Umfeld. Deshalb hoffe ich auch, dass die Schweizer Vertreter so schnell wie möglich zurückkehren und die Kommunikation wieder pflegen. Auch wenn sie dafür allenfalls über ihren eigenen Schatten springen müssen.
Interview: Sarah Stutte, forumKirche, 17.9.21
Mehr Infos über den Verein: www.afghanistanhilfe.org
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