Das Gesundheitswesen auf dem Prüfstand

Am 28. November wird über die Pflegeinitiative abgestimmt, die zum Ziel hat, eine gute Pflege durch genügend qualifiziertes Personal sicherzustellen (siehe unten). Der Sozialethiker Thomas Wallimann ordnet die Initiative in einen grösseren Zusammenhang ein. Am 11. November lädt er zu einem ethikCafé ein, bei dem Interessierte sich vertieft mit dem Thema auseinandersetzen können. 

Wo steht das Gesundheitswesen der Schweiz heute?

In den letzten Jahren etablierte sich im Gesundheitswesen immer mehr eine ökonomische Denkweise, die Menschen zu Rädchen in einer Maschinerie gemacht haben, insbesondere die Pflegenden. Damit verbunden war eine abnehmende Wertschätzung der zwischenmenschlichen Arbeit. Dies wurde in der Corona-Krise sehr deutlich. 
Wir sind dabei, erst langsam zu verstehen, dass Kranksein mehr ist als nur ein «Maschinendefekt» und dass menschliche Zuwendung heilsam sein kann. Geld ist derzeit Kriterium Nummer eins im Gesundheitswesen und das tut ihm nicht gut.

Was bedeutet diese Ausgangslage für die Pflegeinitiative und den Gegenvorschlag?

Die entscheidende Frage an die beiden Lösungsansätze Pflegeinitiative und Gegenvorschlag ist: Inwiefern sichern die Massnahmen ab, dass es auch bei Pflegenden um Menschen geht und nicht einfach um Kostenfaktoren? Beide Konzepte greifen letztlich zu kurz, denn Wertschätzung lässt sich nicht per Dekret verordnen. 
Ich stelle fest, dass in der Pflege eine hohe systemische Gefahr vorhanden ist, dass Menschen, die es gut meinen, ausgenutzt werden. Es stellt sich die Frage, wie man das System ändern kann, dass dies nicht mehr möglich ist. Braucht es dazu Gewerkschaften? Braucht es dazu strukturelle Massnahmen im Lohnbereich wie z. B. einen Gesamtarbeitsvertrag?

Welche Impulse bietet die Diskussion im ethikCafé zu diesem Thema?

Es geht nicht um die Abstimmungsfrage selbst, sondern um die Fragen, die die Abstimmung erst aufwirft: Was bedeutet uns Pflege? Mit was verbinden wir sie? Welches Denkmodell leitet uns? Welche Konsequenzen ergeben sich daraus? Und dann mit Blick auf die konkreten Arbeitsverhältnisse: Was muss man strukturell regeln, was überlässt man dem Einzelnen? Ich glaube, es reicht nicht, wenn man nur die Ausbildung forciert, die Arbeitsverhältnisse an sich müssen strukturell betrachtet werden. 
Je nachdem, wie jemand diese Fragen für sich beantwortet, wird er auch zu einem Ergebnis hinsichtlich der Abstimmung kommen. 

Detlef Kissner, forumKirche, 28.10.21


Die Pflegeinitiative in Kürze

Die Initiative fordert von Bund und Kantonen, dafür zu sorgen, dass es angesichts eines steigenden Bedarfs genügend diplomierte Pflegefachpersonen gibt und Pflegepersonen entsprechend ihrer Ausbildung und ihren Kompetenzen eingesetzt werden. Um dem Ausstieg aus diesen Berufen entgegenzuwirken, soll der Bund die Arbeitsbedingungen regeln und für eine angemessene Abgeltung sorgen. Ausserdem sollen Pflegefachpersonen gewisse Leistungen direkt zulasten der Krankenkasse abrechnen können.
Bundesrat und Parlament stellen der Initiative einen indirekten Gegenvorschlag gegenüber: Die Aus- und Weiterbildung soll während acht Jahren mit bis zu einer Milliarde Franken gefördert werden. Pflegefachpersonen sollen gewisse Leistungen direkt abrechnen können, wobei ein Kontrollmechanismus den Anstieg der Kosten verhindern soll. Der Gegenvorschlag tritt in Kraft, wenn die Initiative abgelehnt und das Referendum nicht ergriffen wird.


Zahlen und Entwicklungen

In der Schweiz werden aufgrund des demografischen Wandels zukünftig deutlich mehr Pflegekräfte benötigt als heute. Waren es 2019 noch 186'000 Personen, die in Spitälern, Altersheimen und bei Spitexdiensten arbeiteten, wird man 2030 etwa 222'000 benötigen. Dies prognostiziert der Nationale Versorgungsbericht 2021 des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums (Obsan). Um auch vorzeitige Berufsaustritte kompensieren zu können, muss man bis 2030 etwa 43'000 Pflegende mit einem Abschluss einer Fachhochschule oder einer höheren Fachschule und 27'000 Pflegende mit eidgenössischem Abschluss neu einstellen. Mit Blick auf die derzeitige Ausbildungssituation wird dies nicht gelingen. Der Obsan-Bericht geht davon aus, dass 2030 rund 20'000 ausgebildete Pflegekräfte fehlen werden.
 

Dr. Thomas Wallimann-Sasaki ist Leiter des Instituts ethik22
Quelle: zVg
Dr. Thomas Wallimann-Sasaki ist Leiter des Instituts ethik22.

 

 

 

 

Pflege
Quelle: shutterstock.com
Wie kann die Pflege wie hier im Spital gewährleistet werden, wenn die Zahl der Pflegebedürftigen zunimmt?

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