Ein Buch über die Renaissance der Religiosität
Der Fotograf und Journalist Sebastian Hesse-Kastein veröffentlichte 2017 das Buch «SIEBEN – Geschichten vom Glauben», in dem er spirituelle Momente aus unterschiedlichen Kulturen und Religionen mit Bildern und Worten porträtiert (s. S. 14). Im Interview erzählt er, was er dabei für Erfahrungen machte und welche Bedeutung er dem Glauben in unserer Zeit beimisst. Das Interview ist ein Beitrag zur Serie «Glaubensbilder» auf Seite 8 (vgl. Kasten).
Was brachte Sie auf die Idee, Menschen bei der Ausübung ihres Glaubens zu porträtieren?
Alles, was mit Glauben und Spiritualität zu tun hat, war und ist ein wichtiger Teil meines Lebens.
Ausserdem hatte ich ein Schlüsselerlebnis, als ich von 2000 bis 2005 das erste Mal als USA-Korrespondent arbeitete. Mir wurde damals bewusst, welch gewaltige Rolle der Glaube im öffentlichen Leben der USA spielt. Gemäss einer Umfrage haben sich nur etwa 10 Prozent aller Amerikaner als Atheisten erklärt. Das ist ein viel geringerer Anteil als in Europa. Es war für mich eine echte Entdeckung, dass Amerika trotz materieller Fixierung diese spirituelle Ebene in seine DNA eingeschrieben hat. Das erfuhr ich in der ganzen Bandbreite: von einer anrührenden Nachbarschaftsreligiosität in den Kirchgemeinden bis hin zur politischen Ebene, wo mithilfe des Glaubens alles Mögliche (z. B. der Irakkrieg) gerechtfertigt wurde.
Ihr Buch wurde aber erst 2017 veröffentlicht.
Ja, das letzte Schlüsselerlebnis, das dann zum Buch führte, war, dass ich in allen Kulturkreisen eine Art Renaissance der Religiosität entdeckt hatte. In China ist mir das richtig klar geworden, weil dort trotz aller maoistischer Versuche, die Religion auszumerzen, genau das Gegenteil entstanden ist. Durch den extremen Konsum des roten Kapitalismus hat sich eine Art Sinnvakuum entwickelt, in das viele von aussen hineindrängen, das aber auch von innen gefüllt wird: durch den Taoismus, den Buddhismus, den Islam in den Landesteilen, die muslimisch geprägt sind, und vor allem durch das Christentum. Es war zu spüren, dass die Menschen sich hingezogen fühlten und Antworten erwarteten. Das hat mich sehr beeindruckt. Das war ein guter Anlass, mich systematischer mit diesem Thema auseinanderzusetzen.
Wie sind Sie dabei vorgegangen?
Mir sind an verschiedenen Orten unterschiedliche Kulturen, Rituale und Glaubensvorstellungen begegnet. Trotzdem hatten sie alle etwas Gemeinsames. Es war eine aufregende Suche danach, was alle verbindet. Der kleinste gemeinsame Nenner stellte für mich die feste Überzeugung dar, dass es etwas gibt, das grösser ist als man selbst, das die eigene Lebenswelt übersteigt. Dass man dieses Grössere zu achten hat und dass es eine grosse gestalterische Kraft ist, aus der man Hoffnung und Energie schöpfen kann.
Wie haben Sie Ihre Protagonist*innen gefunden?
In China habe ich ein längeres Hörfunkfeature über Religiosität erstellt und dazu noch Bilder gemacht. In Indien war es ebenso. Die anderen Gruppen habe ich gezielt gesucht, so z. B. die Mönche auf dem Athos. Es war nicht ganz einfach, dorthin zu kommen. Man musste sich in einem Kontaktbüro in Thessaloniki bewerben und sein spirituelles Anliegen begründen. Ich bin dann bei meiner Pilgerreise von Kloster zu Kloster gewandert.
Letztlich haben Sie sieben Gruppen porträtiert ...
Neben den Mönchen von Athos waren es die Druiden bei der Mistelernte, der irische Katholizismus mit einer Wallfahrt auf den heiligen Berg Croagh Patrick, die Semana Santa, diese Form von schwerem und düsterem Katholizismus, die in andalusischen Regionen gepflegt wird, die Derwische in der Türkei, die Variante des mystischen Islams, die ich in Indien vorgefunden hatte, und die Geschichte, bei der es um die Renaissance der Religionen im chinesischen System gegangen ist. Ich hätte auch neun Geschichten gehabt, fand aber die Begrenzung auf sieben ganz charmant. Sieben ist ja eine mystische Zahl.
Was haben Sie bei der Entstehung Ihres Buches für Erfahrungen gemacht?
Es ist anders, als über Sachthemen zu berichten. Wenn ein Thema eine mystische Komponente bekommt, dann reisst das einen mit. Man wird auch Teil der spirituellen Gemeinschaft, zumindest vorübergehend.
Auf der anderen Seite hat man auch ein schlechtes Gewissen, weil man das Gefühl hat, dass man die Gastfreundschaft dieser Gruppen ausnützt. Man tut so, als würde man dazugehören, als würde man aus einem spirituellen Interesse dabei sein. In Wahrheit ist man auf Bilder und Geschichten aus. Es fiel mir manchmal schwer, dies vor mir selbst zu rechtfertigen.
Aber man spürt ja auch, dass es einem unter die Haut geht, dass es auch etwas Bleibendes hat. Ich kann diese Bilder heute noch nicht anschauen, ohne dass dieses Gefühl in mir aufkommt. Es macht einen auch verletzlicher, weil man etwas von sich preisgibt.
Gab es auch Formen der Spiritualität, zu denen Sie eine grössere Nähe verspürten?
Als Christ lagen mir natürlich die christlichen Themen näher. Sie waren mir vertrauter als Derwische oder der Taoismus mit seiner eher philosophischen Annäherung an die Welt.
Es war mir aber auch daran gelegen, das Christentum in seinem Facettenreichtum darzustellen. Die Büsserprozession in Andalusien hat ein anderes Grundgefühl, eine andere Ästhetik vermittelt als die Klettertour auf den heiligen Berg in Irland, bei der keltische Elemente eingeflossen sind.
Würden Sie sich selbst als spirituellen Mensch sehen?
Ja, unbedingt. Ohne diese Haltung wäre das Buch nicht möglich gewesen. Ich wäre nicht in der Lage gewesen, so in diese Erlebnisse hineinzukommen, wenn sie mich nicht selbst stark angesprochen hätten. Wenn man diese Menschen nicht achtet, kommt man ihnen und dem inneren Kern der Rituale nicht nahe. Auf der anderen Seite gilt es, die Balance zu halten: Ich möchte mit den Bildern und Texten nicht missionieren. Es geht darum, beim Betrachtenden eine Ader zum Schwingen zu bringen.
Hat dieses Projekt etwas in Ihnen bewegt?
Es hat mich in meinen Ansichten bestärkt, dass es aus gutem Grund eine Sehnsucht nach höheren Zusammenhängen gibt - jenseits der materiellen Welt. Wir glauben, dass wir diese Welt komplett erobert haben, machen aber jetzt mit den ganzen Naturkatastrophen, dem Klimawandel oder dem Krieg in Europa die Erfahrung, dass das nicht stimmt. Diese Sicherheiten sind trügerisch, können jederzeit ins Gegenteil kippen. Deswegen ist die Besinnung auf das, was von Dauer ist, wichtiger denn je. Sie bringt auch eine heitere Gelassenheit ins Leben.
In welchem Ihrer Fotos kommt am ehesten Ihre eigene Spiritualität zum Ausdruck?
Ich finde es immer gut, wenn Spiritualität nicht so eine Schwere bekommt. Es gibt ein Bild, das einen Büsser mit Büsserkappe zeigt, der sich an den Kopf fasst. Direkt dahinter sieht man eine Frau, die im weltlichen Kontext genau die gleiche Geste macht. Auf einem anderen Bild sieht man zwei Kinder, die auf dem Bauch liegend der Zeremonie der betenden Druiden zuschauen. Ich finde es schön, wenn eine Leichtigkeit hineinkommt, auch etwas zum Schmunzeln dabei ist. Man kommt nicht weiter, wenn man nur das Schwere und Ernste betont.
Zusammen mit einer Ausstellung Ihrer Fotos 2017 in Erfurt wurden auch Beiträge zum Medienaufruf «Woran glauben Sie?» gezeigt. Wie haben Sie diese Präsentation erlebt?
Die Beteiligung an so einem Aufruf hängt davon ab, ob Menschen sich gern zeigen oder nicht. Viele verstanden ihren Beitrag als Statement: Jawohl, ich bekenne mich öffentlich dazu. Ich finde es tapfer, wenn Menschen das tun. Sogar der Ministerpräsident von Thüringen, Bodo Ramelow, hat mitgemacht. Er ist trotz seiner Parteizugehörigkeit gläubiger Christ und fühlte sich von der schlichten Frage berührt. In seinem Beitrag erzählte er, wie er 2015 auf dem Bahnsteig syrische Bürgerkriegsflüchtlinge begrüsste und dies als zutiefst religiöses Erlebnis erfahren hat. Seine Geschichte trug den Titel «Gott am Bahnsteig».
Waren auch Bilder zu sehen?
Teils, teils. Man konnte mit Geschichten und Bildern auf die Frage antworten. Die Beiträge waren auf einem Laufband zu sehen, das man betrachten konnte.
Inwieweit eignet sich die Fotografie dazu, sich dieser Wirklichkeit jenseits menschlicher Rationalität anzunähern?
Man kann Transzendentes oder Spirituelles nicht darstellen, aber man kann Menschen darstellen, die Erlebnisse dieser Art haben. Ich hatte mir kurz überlegt, ob ich die Fotos mit Menschen in ihrer Versenkung aus den unterschiedlichen Religionen vermischen soll, um den jeweiligen kulturellen Kontext zu verwischen. Man hätte damit das Verbindende im Verschiedenen deutlich machen können. Ich habe diese Idee aber wieder verworfen.
Ich glaube schon, dass man Ergriffenheit darstellen kann. Meine Fotos sind schwarz-weiss, weil ich finde, dass sie damit etwas Zeitloses haben. Mir ging es ja darum, das Losgelöstsein aus dem vergänglichen Kontext darzustellen.
Werden Sie sich weiterhin mit dem Thema Spiritualität auseinandersetzen?
2005 habe ich einen Bildband über die Irish Travellers herausgegeben. Das ist eine Gruppe von nichtsesshaften Landfahrern, die es nur auf den britischen Inseln gibt. 2017 folgte das SIEBEN-Buch. Nun soll als letzter Teil einer losen Trilogie ein Buch über sieben armenische Exilgemeinden aus aller Welt erscheinen. Auch hier ist meine These, dass es neben der Sprache und der Schrift der Glaube ist, der dieses Volk mit den ältesten christlichen Wurzeln zusammenhält. Das Buch ist schon fertig, kann aber wegen der hohen Papierpreise derzeit nicht gedruckt werden.
Interview: Detlef Kissner, forumKirche, 29.12.2022
Angebot zum Mitmachen
Was bedeutet Ihnen der Glauben? Wo und wann (er)leben Sie ihn? Sie sind eingeladen, zu diesen Fragen der Redaktion ein druckfähiges Foto und einen kurzen Text mit Angaben zu Ihrer Person zu schicken. Beides wird dann in unserer Serie «Glaubensbilder» (S. 8) veröffentlicht. Kontakt: redaktion@forumkirche.ch
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