Über Spirituelles im touristischen Kontext
Die Kooperation von Tourismusverbänden und den Kirchen ist in der Schweiz nichts Neues. Doch angesichts rückläufiger Zahlen in der traditionellen Seelsorge gewinnt diese Zusammenarbeit zunehmend an Bedeutung. Michael Landwehr, Präsident des 2021 gegründeten Vereins Kirchen + Tourismus Schweiz, erzählt, warum es Sinn macht, als Seelsorger*in dort präsent zu sein, wo Menschen Erholung suchen und ihre Freizeit geniessen, und welche Angebote es bereits gibt.
Was haben Glauben und Tourismus miteinander zu tun?
Ganz viel. Man macht immer wieder die Erfahrung, dass Menschen in ihren Ferien besonders offen für spirituelle und inspirierende Impulse sind. Einerseits suchen sie Ruhe, andererseits Anregung zum Nachdenken über die Grundfragen des Lebens.
Unsere Kirchen sind da. Man macht die Tür auf - egal, wie nah oder fern man dem Glauben ist -, nimmt die Raumwirkung wahr, zündet eine Kerze an, setzt sich einfach in eine Bank, schaut die Glasfenster an … Es gibt ganz verschiedene Zugänge.
Wenn Menschen in den Ferien sind, sind sie unterwegs. Das Unterwegssein ermöglicht neue Blickwinkel, neue Erfahrungen. Heute holt man sich Anregungen für sein Leben, wo man sie bekommt. Kirche kann so zu einer Station am Weg werden, eine Herberge sein.
Wie ist der Verein Kirchen + Tourismus Schweiz entstanden?
Ich hatte schon lange die Idee, einen solchen Verein zu gründen. Zuvor hatte ich mich in der Kommission Kirche und Tourismus des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes (SEK heute EKS) engagiert. Als diese und die entsprechende Kommission der Schweizer Bischofskonferenz aufgelöst wurde, wurden Kapazitäten frei, mit einzelnen Mitgliedern der Kommissionen und mit Touristikern einen solchen Verein ins Leben zu rufen. Dass dies ökumenisch verwirklicht wird, war mir schon immer ein Anliegen. Denn es ist nicht entscheidend, ob man katholisch oder evangelisch ist oder gar nichts damit zu tun hat. Dieser Wow-Effekt, dass einen solche Impulse im Leben weiterbringen, ist viel wichtiger.
Welche Ziele verfolgt der Verein?
Er möchte die Entwicklung konkreter gemeinsamer Projekte und Produkte von Kirchen und Tourismus fördern. Er bringt kirchlichen Kreisen touristische Erfahrungen und Denkweisen nahe und vertritt christliche und ethische Werte in der Welt des Tourismus. Ebenso Werte mit Blick auf die Arbeitsprozesse in der Freizeitindustrie. Er vernetzt kirchliche Kreise mit touristischen Organisationen und fördert den Erfahrungsaustausch schweizweit.
Wo gibt es bereits funktionierende Kooperationen von Kirche und Tourismus?
Mitglieder von Schweiz Tourismus waren Teil der beiden kirchlichen Kommissionen und sind heute Teil des Vereins. Kirchenvertreter*innen nehmen schon über 20 Jahre lang am Schweizer Ferientag, dem grössten Branchentreffen des Schweizer Tourismus, teil.
Es gibt viele Kooperationen. Das Projekt Verlässlich geöffnet war auch dem Tourismus ein wichtiges Anliegen. Mit Broschüren wurden Entscheidungsträger dazu animiert, die Türen ihrer Kirchen für Interessierte zu öffnen. Das Projekt Kirche im Grünen regt dazu an, Gottesdienste auf einem Berg, einer Alm oder an einem See zu feiern. Im Engadin wurde sogar eine Übersicht solcher Gottesdienste mit den örtlichen Tourismusverbänden zusammengestellt – ein schönes Zeichen der Kooperation. Zusammen mit Graubünden Ferien entstand die Idee, «Schöpfungsferien» anzubieten. Dieses Angebot wurde von der Fachstelle Kirche im Tourismus unterstützt. Auf unserer Webseite findet man viele weitere Beispiele.
Wo zeigen sich spirituelle Bedürfnisse von Touristen, auf die die Kirchen mehr eingehen könnten?
Die Stiftung für Zukunftsfragen hat eine repräsentative Umfrage dazu gemacht, was Menschen in ihren Ferien suchen. An erster Stelle stehen die Antworten «Erholung und Entspannung» (um die 90 %), «Unterbrechung des Alltags», «Begegnung mit anderen» und «Besuch von Orten mit besonderer Ausstrahlung». Das sind alles Bedürfnisse, die auch mit Glaubensthemen im Zusammenhang stehen. 64 % der Befragten nennen explizit die «Seelenpflege» als Anliegen und immerhin ca. 20 % können der Antwort «spirituelle Erfahrungen» zustimmen. Das ist doch sehr erstaunlich bei der Fülle möglicher Antworten.
Untersuchungen der VRK Akademie zeigen zudem, dass etwa 50 % der Feriengäste offene Kirchen aufsuchen. Ebenso viele geben an, dass sie in den Ferien Gottesdienste besuchen, auch wenn sie das zu Hause nicht tun. Etwa 75 % wissen, dass an ihrem Ferienort Gottesdienste stattfinden. Auch das ist beachtlich.
Aus gesellschaftlicher Sicht gewinnt das Thema Stille an Bedeutung: In der Zeitschrift Focus erschien 2017 das Titelthema «Sehnsucht nach Stille – wie Seele und Körper neue Kraft gewinnen». Eine von sieben Überschriften des Zukunftsreports 2019 lautet «Die neue Stille».
Auch der Tourismus nimmt die Bedeutung von Glaubensthemen wahr. So widmet sich z. B. die Reihe Schriften zu Tourismus und Freizeit dem Thema «Kulturfaktor Spiritualität und Tourismus - Sinnorientierung als Strategie für Destinationen». Aber auch andere Werte wie Nachhaltigkeit werden von den Verantwortlichen im Tourismus ernst genommen (vgl. Strategie Swisstainable).
Welche Menschen hat man dabei im Blick?
Natürlich hat man – um die Begriffe der Sinus-Milieu-Studie aufzugreifen - die Bürgerliche Mitte bzw. Traditionalisten im Blick, wenn man Gottesdienste anbietet. Bezüglich der Zielgruppe gilt aber ein «Sowohl-als-auch» und nicht ein «Entweder-oder». Gruppen wie die Performer, die man in den Kirchen nicht mehr findet, erreicht man mit besonderen Aktionen sehr wohl. Z. B. kann man bei einer Fussball-Europameisterschaft eine*n Sportler*in zum Public Viewing einladen, die*der Bezug zum Glauben hat, eine Torwand in Kirchenform einsetzen oder darüber predigen, warum Jesus im Tor stand und die Jünger im Abseits. Ich bringe andere Anknüpfungspunkte als sonst. Eine Taufe im See oder eine Hochzeit auf dem Berg spricht ebenso andere Milieus an.
Wie können Seelsorgende für «Gesundheitstouristen» da sein?
Zunächst gilt es, aufmerksam zu werden für das Thema Gesundheit. Menschen verstehen Gesundheit nicht als Gegenteil von Krankheit. Auch wer Wellness-Angebote bucht, sucht mehr als Erholung im Sprudelbecken. Es geht vielmehr um Healness, um ein umfassendes Gesundsein, eine ganzheitliche Dimension.
Diese Erkenntnis ist für Hoteliers und Seelsorgende gleichermassen interessant. Für beide stellt sich die Frage, wie man Wellness mit Angeboten verbinden kann, die auch die Seele ansprechen. Wenn eine Quelle vor Ort ist, lassen sich kreativ Bezüge zu biblischen Erzählungen mit Quellen herstellen. In Zermatt hat ein Hotel ein Wellnessangebot entwickelt, das sich an den sieben Schöpfungstagen orientiert. Der Veloweg Herzroute hat etwas mit Herzgesundheit zu tun – in klinischer und geistig-spiritueller Hinsicht. Er bezieht die Freude mit ein.
Im September bietet der Verein in Kooperation mit anderen Partnern ein dreitägiges Seminar mit dem Titel «Kirche für Gäste» an. Wen wollen Sie damit erreichen?
In erster Linie sind pastoral Tätige angesprochen wie Pfarrpersonen oder Sozialdiakon*innen. Die Veranstaltung ist aber auch offen für Hoteliers, Mitglieder von Kirchgemeinden oder für jemanden, der einen ersten Zugang zu diesem Thema sucht. Sie richtet sich auch an Personen aus nicht-touristischen Gebieten. Denn die Ergebnisse können auch dort umgesetzt werden.
Touristenverbände verfolgen kommerzielle Interessen. Besteht nicht die Gefahr, dass sich die Kirchen vor deren «Karren spannen» lassen?
Das ist eine berechtigte Frage. Der Verein verfolgt als weiteres Ziel, ethische Werte in den Tourismus zu tragen, z. B. Gastfreundschaft zu fördern. Kirchen sind auch Gesprächspartner bei der Weiterentwicklung des Tourismus: Welche Formen braucht es? Wo ist auf Nachhaltigkeit und Fair Trade zu achten? Deshalb ist auch der Geschäftsleiter von fairunterwegs Mitglied im Beirat unseres Vereins. Die Sorge um die Nachhaltigkeit findet im Schweizer Tourismus grosse Beachtung.
Aber die Kirchen setzen auch eigene Akzente, mit denen sie Feriengäste erreichen. Bei der Ski-WM in St. Moritz teilten wir die Freude mit den Besucher*innen und setzten Sonnenfänger mit den Worten «Ihr seid das Licht der Welt» ein. Zugleich bedachten wir den Menschen unter dem Skihelm. Die Kirchen gehen somit ihrem eigenen Auftrag nach.
Was können die Kirchen von der Tourismusbranche lernen?
Zum einen das Vorgehen im Marketing: Wie verpacke ich meine Botschaften? Welche Formate gebe ich ihnen? Wie komme ich auf Webseiten zu höheren Klickzahlen? Wie kann ich Menschen über Soziale Medien erreichen? Zum anderen können sich die Kirchen etwas in puncto Entschlossenheit abschauen. Bei den Kirchen dauert alles etwas länger, alles muss abgestimmt werden, vieles landet schliesslich unentschieden auf dem Ablagestapel. Im Tourismus hingegen kalkuliert man ein Projekt, entscheidet dann und startet einen Versuch. Man riskiert auch einmal einen Fehlversuch.
Auch die Begeisterung ist ein wichtiger Punkt. Wenn ich einen Gottesdienst herunterleiere, keinerlei Lust dabei ist, merken das die Teilnehmenden. Menschen in ihrer Freizeit zu begegnen, bietet die Chance, sie zu faszinieren - nicht ihnen etwas überzustülpen, sondern die eigene Überzeugung spüren zu lassen: zum Wohle der Menschen, zur Ehre Gottes. Das ist eine tolle Aufgabe: da zu sein, wo Menschen sind.
Interview: Detlef Kissner, forumKirche, 18.08.2022
■ Nähere Infos auf www.ktch.ch, siehe auch Buchtipp S. 14
Neue Forschungsstelle
Dieses Jahr wurde am Pastoralinstitut der Theologischen Hochschule Chur eine Forschungsstelle im Projekt «Kirche im Tourismus» eingerichtet. Sie soll als ökumenischer Kooperationspartner des Zentrums für Kirchenentwicklung der Theologischen Fakultät der Universität Zürich einen Beitrag zur Stärkung kirchlicher Präsenz im Tourismus leisten. Die Hochschule erhielt auch von der Schweizer Bischofskonferenz ein Mandat, dieses Thema nach der Auflösung der Nationalen Kommission für Freizeit-, Tourismus- und Pilgerseelsorge zu erforschen.
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