Kirche und Geschwisterlichkeit

Um eine geschwisterliche Kirche umsetzen zu können, müsse man sich zuerst einmal der Erfahrungen in der eigenen Biografie bewusst werden, sagte Helga Kohler-Spiegel, Professorin für Human- und Bildungswissenschaften an der Pädagogischen Hochschule Vorarlberg. 

Ambivalenzen aushalten
Die Theologin und Psychotherapeutin zeigte in einem kurzen Abriss, wie sich die psychologische Forschung mit Alfred Adler in den 1920er-Jahren für die Geschwisterkonstellation zu interessieren begann. Die Geschwisterreihe spielt neben der Qualität der Beziehung und dem Erziehungsstil der Eltern eine Rolle. «Geschwisterbeziehung ist die längste aller Sozialbeziehungen, die wir haben. Sie dauert in der Regel über das Leben der Eltern hinaus», so die Referentin. Sie erläuterte, dass Kinder im Alter von drei bis fünf Jahren doppelt so viel Zeit mit den Geschwistern verbringen wie mit den Eltern. Dabei lernen sie zu teilen und erfahren intensive Emotionen: Gemeinschaft versus Rivalität. Diese Ambivalenz gilt es auszuhalten. «Aus der Beobachtungsforschung weiss man, dass Kinder im Fünf-Minuten-Takt miteinander spielen und streiten können. Das ist völlig normal – und wichtig für die Übertragung auf die Kirche», sagte Kohler-Spiegel. Im Laufe des Lebens nimmt die Bedeutung der Geschwister ab, Beruf und eigene Familiengründung stehen eher im Fokus. Im späteren Alter werden Geschwister wieder wichtiger. «Dies spiegelt sich auch in der Kirche wider: Die meisten Freiwilligen sind älter», so Kohler-Spiegel. In einem ersten Austausch diskutierten die Seelsorgenden, welche Rolle sie selbst in der Familie aufgrund der Geschwisterreihe haben.

Umgang mit Stress
Aufgrund einer Frage aus dem Publikum zeigte Helga Kohler-Spiegel auf, dass die landläufige Meinung, Einzelkinder seien egoistischer als Kinder mit Geschwistern, revidiert werden muss. Einzelkinder können besser für sich alleine spielen und sind stärker gefordert, sich selbst zu stabilisieren und emotional zu sichern, da sie keine Ablenkung oder keinen Trost durch Geschwister erhalten. Darauf erklärte die Referentin, mit welchen drei Möglichkeiten Menschen auf Stress reagieren: Auseinandersetzung, Flucht oder Aussitzen. Denn in einer «geschwisterlichen Kirche» ist es hilfreich zu wissen, wie man selbst und wie Arbeitskolleg*innen in Stresssituationen reagieren. Dies leitete über zum zweiten Austausch, wo die Anwesenden über ihr Stressverhalten sprachen. 

Jede*r wird gesehen
Mit dem Märchen «Hänsel und Gretel» verwies Helga Kohler-Spiegel auf ein positives Geschwisterrollenbild: Die beiden ergänzen sich, lösen gemeinsam Aufgaben, haben aber auch das Vertrauen, allein ein Stück Weg zu gehen. Anhand von Kain und Abel, Jakob und Esau, Josef und seinen Brüdern in der Bibel kam Kohler-Spiegel zum Schluss: «Die Bibel präsentiert keine Lösungen, sondern zeigt Modelle auf. Je nach Situation braucht es das eine oder andere Modell.» Im Neuen Testament zeigt sich viel Ermutigung. Insgesamt steht in der Bibel 365 Mal «Fürchte dich nicht!». Die Kernbotschaft dieser Aussage lautet, nicht aus der Angst heraus zu reagieren. Sie steht dafür, dass jede*r einzelne gesehen wird und einen Platz hat. Das Neue Testament überliefert auch, wie die ersten Christ*innen diese «Geschwisterlichkeit» gelebt haben. In einem dritten Austausch ging es um die Übertragung der Erfahrungen des Geschwisterlichen auf die Kirche.

Alle an einem Tisch
Angesprochen darauf, wie es mit der Kirche sei, wenn die «Eltern» nicht mehr da seien, antwortete Kohler-Spiegel: «Das jesuanische Bild sagt: Alle sitzen an einem Tisch. In der frühen Kirche ist das, was weitergeht, der Geist Jesu. Die Formulierung Brüder und Schwestern ist ein Zeichen dafür, dass wir so weiterfahren, wie Jesus es uns vorgelebt hat.» Geschwisterliche Kirche heisse nicht, dass wir uns immer lieben müssten. Es gehe vielmehr um die Frage: Wie bleiben wir – geschwisterlich – in Verbindung zueinander und wie halten wir es zugleich aus, dass wir verschieden sind? Dies könne nur Tag für Tag gelebt werden, so die Referentin. Im Plenum war man sich einig, dass man im Austausch bleiben müsse, auch wenn einige müde geworden seien.

Béatrice Eigenmann, forumKirche, 30.11.2022
 

Helga Kohler-Spiegel
Quelle: Béatrice Eigenmann
Helga Kohler-Spiegel an der Pastoralkonferenz zum Thema «Geschwisterliche Kirche»

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