Traumata über Generationen hinweg

Der 27. Januar ist der Internationale Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus. Es ist das Datum der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau. Das ist lange her – doch die Nachkommen tragen die Folgen bis heute. 

«Mein Vater war oft sehr traurig. Er war dann in seinen Schmerz eingesponnen», erzählt Anna (Name geändert). «Ich versuchte, ihn da herauszuholen und gab mir Mühe, brav zu sein und gute Noten heim zu bringen.» Anna ist die Tochter eines Shoah-Überlebenden. Ihr Vater habe sich meist im «Katastrophengang» befunden, sagt sie. «Er befürchtete immer das Schlimmste und führte Notgepäck mit sich. Bei Katastrophen war er ruhig und kompetent. Im Alltag zeigte er aber oft massive Angstreaktionen, die belastend für die Familie waren.» Und: Weil sie ihrem Vater nicht helfen konnte, strengte sie sich bis zur Erschöpfung an.
Anna besuchte dann eine 2. Generationengruppe. Alle dort hatten mit den Folgen der Traumata ihrer Eltern zu kämpfen. Die Therapeutinnen unterstützten sie dabei, die Situation einzuordnen und sich ein Stück weit davon zu befreien. Dabei lernten sie auch die Lebensleistung ihrer Eltern zu schätzen, die trotz allem ein Berufs- und Familienleben aufbauen konnten.

Dauerhafte Traumata
Mitte der 60er-Jahre tauchten die Kinder Überlebender bei Therapeut*innen auf, mit ähnlichen Symptomen wie ihre Eltern. Damit begannen Untersuchungen zur Transgenerational Transmission of Trauma (TTT), d. h. zur Übertragung von Erfahrungen der Angehörigen einer Generation auf die nachfolgenden Generationen. Dies geschieht meist unbeabsichtigt, unbewusst und ungewollt. Psychologische und genetische Faktoren, die aus unverarbeiteten Traumata stammen, spielen dabei eine Rolle. Die gute Nachricht: Behandlungen helfen den betroffenen Personen und ihren Nachkommen.
Der psychologische Aspekt: Die Kinder betroffener Familien sollen ersetzen, was die Eltern verloren haben, die Leere füllen. Sie sollen aber auch glücklich und erfolgreich werden und damit den Sieg über die Verfolger*innen repräsentieren. Die 2. Generation gerät damit in einen Zwiespalt. Sie versucht die Eltern von den Gespenstern ihrer Seele zu erlösen. Darum sprechen sie nicht über ihre eigenen Sorgen. Sie haben Mühe, sich von den Eltern zu distanzieren und ein eigenes Leben aufzubauen. Dazu fühlen sie sich oft lebenslang für sie verantwortlich. Viele zweifeln, ob sie glücklich sein dürfen, wenn die Eltern leiden. Die 2. Generation ist sehr anfällig für posttraumatische Belastungsstörungen, Stress, psychosomatische Krankheiten und Depressionen.
Das Max-Planck-Institut für Psychiatrie erforscht seit Jahren, wie sich die Erfahrungen der Eltern auf die Gene ihrer Kinder auswirken. Das Ergebnis: Die Epigenetik bestimmt mit, welches Gen wann an- oder ausgeschaltet wird. Traumata und Ängste spielen dabei eine Rolle, da der Umgang mit Stress vererbt wird und damit stressbedingte Krankheiten entstehen können. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Erwachsenen über die Belastungen sprechen oder schweigen. Die Forschung zeigt: Ängste und Traumata lassen sich vor Kindern nicht verbergen. Doch der Prozess ist reversibel.

Die Nachkommen der Täter*innen
Der israelische TTT-Forscher Dan Bar-On befragte erstmals in den 80er-Jahren deutsche Täternachkommen. Es zeigte sich, dass die meisten Väter Angst vor Bestrafung hatten, aber kein Schuldbewusstsein. Sie bürdeten die Last der Schuld- und Schamgefühle den Kindern auf. Meist brechen erst die Enkel*innen das Schweigen. Die Täter*innen lernten auch, in zwei getrennten Welten zu leben. Trotz seiner Verbrechen war der Vater daheim fürsorglich. Neben der «heilen Familie» stand abgeschottet das Grauen, das ohne persönliche Konsequenzen blieb. Die Diskrepanz zwischen den Taten und der Akzeptanz der Folgen gaben sie oft weiter. Auch die Kirche forderte keine Anerkennung der Schuld. Sie plädierte lange für Vergebung und Vergessen. Täter*innen verletzen ihre eigene Menschlichkeit. Die Kinder mussten sich diesem Horror stellen, etwa, dass der Vater ein Massenmörder war. Sie sind ebenfalls traumatisiert, doch hat ihr Trauma eine andere Qualität als das der Verfolgten. Nicht wenige wollten daher keine Kinder.
In der Bibel gibt es ebenfalls Hinweise: In Exodus 34 heisst es, die Schuld der Väter werde bis ins dritte und vierte Glied «heimgesucht». Oder: Die Väter haben saure Trauben gegessen und den Kindern sind die Zähne stumpf geworden (Ezechiel 18,1ff). Gewalt fügt Menschen grosse Wunden zu. Traumata werden über Generationen weitergegeben. Der 27. Januar erinnert uns daran, wie wichtig es ist, sich für deren Heilung einzusetzen.

Christiane Faschon, 12.1.2022
 

Seelische Verletzungen können sich von den Eltern auf die Kinder übertragen.
Quelle: igorovsyannykov/pixabay.com
Seelische Verletzungen können sich von den Eltern auf die Kinder übertragen.

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