Mutter eines Sohnes mit Trisomie 21
Erika Suters Leben wurde ziemlich umgekrempelt, als sie ihr viertes Kind zur Welt gebracht hatte und sich herauskristallisierte, dass ihr jüngster Sohn ein Down-Syndrom hat.
«Jonas ist ein Geschenk des Himmels», sagt Erika Suter. «Das wurde mir in mehreren Träumen aufgezeigt, nachdem mein Sohn vier Tage alt war und der Arzt die Vermutung geäussert hatte, Jonas könne Trisomie 21 haben.» Für die damals 42 Jahre alte Mutter waren diese Träume ein Trost. Es wäre ihr nie in den Sinn gekommen, während der Schwangerschaft einen Test machen zu lassen. Sie wäre überfordert gewesen und hätte nie abtreiben können.
Voller Ideen
Um ihr jüngstes Kind nicht allein grossziehen zu müssen, heiratete sie dessen Vater. Sie hatte bereits drei praktisch erwachsene Kinder, als Jonas zur Welt kam. Doch die Schwierigkeiten der Eltern miteinander spürte Jonas sehr genau. Er war hochgradig hyperaktiv. «Nach der Trennung wurde Jonas ruhiger», erzählt Erika Suter. Dennoch blieb Jonas sehr selbstbestimmt. Noch heute, mittlerweile 31 Jahre alt, steckt er voller Ideen. Als Beispiel erwähnt Jonas’ Mutter Folgendes: «Als ich am Wochenende für ein paar Stunden weg war, verschob er meine Biedermeierkommode in sein Zimmer und schleppte stattdessen eine knallrote Kommode aus dem Estrich hinunter in mein Zimmer – und räumte meine Kleider wieder perfekt ein.» Es sei früher sehr anstrengend gewesen, mit ihm unterwegs
zu sein – aber auch immer sehr schön, wenn sie allein waren. Sie habe 50 oder 60 Prozent gearbeitet und sich in der restlichen Zeit um Jonas gekümmert. Letzteres wäre eigentlich ein Vollzeitjob gewesen.
Sozialer Rückzug
Da sie im sozialen Bereich tätig war, musste Erika Suter auch Nachtwache halten. Als Alleinerziehende bedeutete dies einen grossen Organisationsaufwand, der sie an ihre Belastungsgrenze brachte. Erika Suters Mutter hätte ihre jüngste Tochter gerne unterstützt, aber sie hatte Mühe mit dem Treppensteigen im liebevoll renovierten Bauernhaus und konnte mit Jonas’ Tempo nicht mithalten. «Ich hätte gerne in einem Chor gesungen oder mal einen Kurs besucht. Aber nach der Arbeit hatte ich keine Kraft mehr, jemanden zu organisieren, der nach Jonas schaut», meint Erika Suter rückblickend. «Mein Lebensinhalt bestand in erster Linie darin, für Jonas da zu sein und für uns beide zu sorgen. So habe ich mich auf Hobbys konzentriert, die ich zu Hause machen konnte wie Lesen und Malen.» Es brauchte ein paar Jahre, bis Jonas’ Mutter in der Öffentlichkeit keine Hemmungen mehr hatte, mit ihrem Sohn unterwegs zu sein. «Ich habe gemerkt, wie ich mich zurückgezogen habe. Dank Jonas habe ich mehr Selbstvertrauen gewonnen. Heute macht es mir nichts mehr aus. Im Gegenteil, ich finde die Reaktionen der Leute interessant.»
Ordnungsliebe
Jonas besuchte bis zu seinem 18. Altersjahr das Schulhaus Granatenbaumgut der Schaffhauser Sonderschulen. Schon sehr früh fuhr er von seinem Wohnort Dörflingen allein zur Schule. Geplant war, eine hauswirtschaftliche Anlehre in der Stiftung altra schaffhausen zu machen, aber er fühlte sich dort nicht wohl. So griff Erika Suter beherzt zum Telefon und rief den Küchenchef der Spitäler Schaffhausen im Kantonsspital an. Seither arbeitet Jonas – mit ein paar Unterbrüchen – im Spital. Er ist an vier Tagen in der Woche von 10 bis 15 Uhr für die kalte Küche tätig und hilft überall, wo zwei Hände gebraucht werden. Es ist ein eingespieltes Team. Als Jonas diesen Sommer krankheitshalber ausfiel, sagte ein Arbeitskollege, es sei langweilig ohne ihn. Auf die Frage, ob es ihm noch immer gefalle im Spital, antwortet er mit einem überzeugten Ja und lächelt zufrieden. Für ihn ist es wichtig, dass er einen Vertrag hat, Lohn erhält, auf der Mitarbeiterliste aufgeführt wird und Ferien bekommt – und Anerkennung. Seine Mutter ergänzt, Jonas sei sehr ordentlich, bediene gerne Leute und möge saubere Tische. Deshalb fand Jonas vor einigen Jahren, er wolle noch etwas anderes machen, und arbeitete bis zum Ausbruch der Corona-Pandemie freitags und samstags über Mittag bei McDonald’s in Schaffhausen. Mit seiner umgänglichen Art war er beliebt, und die Mitarbeitenden waren traurig, als er nach der Pandemie nicht mehr zurückkehrte.
Musikalität
Jonas musiziert leidenschaftlich gerne. Er singt mit grosser Freude im Chor Altra Voce, auch wenn er sich sprachlich nur mit Ein-Wort- oder Zwei-Wörter-Sätzen artikulieren kann. In seinem Zuhause finden sich einige Instrumente, vom Schlagzeug über Gitarre, E-Piano bis zu seinem geliebten Cello. Für den Besuch imitiert Jonas den Klang des Posthorns auf einem Naturhorn. Er spielt nach Gehör, Notenlesen kann er nicht. Mit Leichtigkeit schafft er den Ansatz und eine reine Intonation – ein Naturtalent. Er spiele auch Alphorn, erzählt seine Mutter, aber am
liebsten möchte er ein Hackbrett haben. In der Musik gehe Jonas richtig auf und bleibe bei sich.
Guggen- und Appenzeller Musik
Wenn sich Jonas für etwas interessiert, dann richtig: Während der Coronazeit beschäftigte er sich intensiv mit Guggenmusik. Er druckte etwa 3’000 Seiten aus dem Internet aus mit Informationen über verschiedene Guggenmusiken und beklebte damit den ganzen Dachstock.
Zu seinem Geburtstag im Juni 2019 hatte er die Guggenmusik X-Large aus Wiesendangen eingeladen. Er hatte Bänke und Tische von der Gemeinde organisiert, um die Guggenmusik bewirten zu können. Seine Mutter erfuhr erst im letzten Moment davon. Jonas hatte trotz der Wärme das Kostüm der ehemaligen Schaffhauser Gugge Bölle-Frässer angezogen und dirigierte die eingeladene Truppe. Zum Beweis sucht er im Internet geschickt das betreffende Video heraus und spielt es vor – und lacht sein schelmisches, zufriedenes Lächeln. Danach googelt er die Fotos, die zeigen, wie er mit einer selbst verzierten Fahne an der Fasnacht 2023 die Guggenmusik X-Large angeführt hat. Zurzeit ist die Appenzeller Musik sein Thema. Jonas
besitzt seit Neustem sogar eine Appenzeller Tracht. In seinem Zimmer steht eine Schüssel zum Talerschwingen auf einer Kommode. Daneben hat er ein paar Figuren in Appenzeller
Tracht arrangiert. Seine Grossmutter war Appenzellerin. Stolz präsentiert er dem Besuch die beiden prächtig verzierten Appenzeller Kuhglocken. An seinem Schrank kleben ordentlich aufgereiht viele Kleber der Schifffahrtsgesellschaft Untersee und Rhein. Auch im Schrankinneren herrscht Ordnung. Alles ist in Ordner abgelegt und durchnummeriert.
Sensibilität
Nach der Pandemie realisierte Erika Suter, dass ihr Sohn keine Lehre gemacht hat, obschon er ein Anrecht darauf hat. Da Jonas während der Pandemie bei einem Biobauern im Dorf geholfen hatte, begann er eine Lehre auf einem grossen Demeter-Hof in der Nähe von Uster, wo er die Woche über verbrachte und nur ab und zu nach Hause kam. Die Arbeit mit den Tieren gefiel ihm sehr. Im Herbst erkrankte er und wollte nach Hause. Er hatte Heimweh. So brach er die Lehre ab. «Mir ging es in dieser Zeit nicht gut. Ich vermute sogar, dass Jonas in meiner Nähe sein wollte», sagt Erika Suter. «Jonas hat ein Gespür dafür, wenn es jemandem nicht gut geht. Er muntert diese Menschen auf oder umarmt sie.» Jonas liebt Kirchen und Kapellen über alles. Er mag deren Atmosphäre, sei es, um darin still zu sitzen, einem Gottesdienst oder einem Konzert beizuwohnen. Gerne hält er dabei die Hand seiner Mutter. «Mit Trisomie 21 hat er ein Chromosom mehr als wir – also eine Antenne zusätzlich», deutet es Erika Suter aus. Als er mit ihr in Taizé weilte, bestand er darauf, dass sich beide segnen liessen. «Durch Jonas habe ich zur Demut gefunden, zum Gottvertrauen in das, was ist», resümiert Erika Suter. «Das bedeutet nicht, dass ich alles hinnehme. Im Gegenteil: Ich habe gelernt, für mich und Jonas einzustehen. Aber es ist gut, von einer höheren Macht getragen zu werden.» Der
Mensch wolle möglichst den bequemsten Weg gehen. Plötzlich stehe ihm ein grosser Stein im Weg. Er könne diesen umgehen oder auf ihn steigen. Von dort oben habe er eine Aussicht, die er sonst nie gehabt hätte, erklärt Erika Suter es in einem Bild. Sie sei dankbar für diese Aussicht, denn Jonas habe sie gelehrt, ruhiger und gelassener zu werden.
Ablösungsprozess
Im Sommer erkrankte Jonas so schwer, dass er ins Spital eingeliefert werden musste. Seine Mutter hatte Keuchhusten und danach Bronchitis, sodass sie selbst recht geschwächt war. Trotzdem musste sie sich um Jonas kümmern, als er aus dem Spital nach Hause zurückkehrte.
Erika Suter merkte, dass sie nicht mehr über dieselben Kräfte verfügt wie früher und eine Lösung gefunden werden muss. «Ich will mehr Zeit für mich haben», sagt sie. «Ich möchte auch einmal allein in die Ferien fahren oder einen Kurs besuchen. Jonas ist jetzt erwachsen. Er kann zwei Zuhause haben, eines bei mir und eines in einer Institution. Das bereichert uns beide.» Jonas hat bereits zwei Institutionen im Kanton Schaffhausen besucht und sich für diejenige entschieden, die nahe bei seinem Arbeitsort liegt. Sobald ein Zimmer frei wird, darf er zur Probe wohnen. Damit sich Erika Suter allein eine Wohnung leisten kann, muss sie ihr Haus verkaufen. Rund 30 Jahre lang hat sie darin gelebt und ganz viel Eigenleistung hineingesteckt. Ihre Kinder haben sie tatkräftig unterstützt. Es eilt nicht, aber Erika Suter ist sich bewusst, dass sie den nächsten grossen Stein erklimmen wird. Welche Aussicht sie wohl von dort oben hat?
Béatrice Eigenmann, forumKirche, 23.10.24
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