Sterbewunsch im Altersheim
Am 22. November 2023 reichten sieben erstunterzeichnende Kantonsrät*innen im Kanton Thurgau die Parlamentarische Initiative «Selbstbestimmung am Lebensende auch in Pflegeeinrichtungen» ein. Sie wollen – analog zu den Kantonen Neuenburg, Wallis und Zürich –, dass das Recht auf Sterbehilfe gesetzlich verankert wird. forumKirche hat ein Alterszentrum befragt, das Suizidhilfe bereits zulässt.
«Bei uns steht der Wille der betreffenden Person im Zentrum», sagt Alexandra Beck. Sie ist seit neuneinhalb Jahren Leiterin Pflege und Betreuung im Alterszentrum Weinfelden (AZW). Dieses bietet 109 Betten in Einer-, Zweier- und Dreierzimmern an, wozu auch eine Hospizwohnung gehört. Zusätzlich stehen 20 Alterswohnungen zur Verfügung. Von den 160 Mitarbeitenden sind rund 100 für die Pflege und Betreuung zuständig – unter ihnen 15 Lernende resp. Studierende. Deshalb kommt der Aus- und Weiterbildung grosse Bedeutung zu. Das Zentrum bietet sechs Abteilungen an. Eine davon ist eine geschützte Wohngruppe für Menschen mit einer Demenzerkrankung. «Es ist ein tolles Haus», schwärmt Beck. «Der Verwaltungsrat legt Wert auf eine zeitgemässe Infrastruktur, denn ohne geht es nicht.» Das AZW besteht seit über 50 Jahren und ist genossenschaftlich ausgerichtet.
Passive Sterbehilfe erlaubt
Seit vier Jahren ist das AZW Palliative-Care-zertifiziert. Aufgrund einer Nachbesserung im Gefolge der Rezertifizierung hat der Verwaltungsrat am 26. Oktober 2023 folgenden Passus angenommen: «Sollte dennoch der Wunsch nach passiver Sterbehilfe im AZW entstehen, ist dies im AZW möglich. Dieser Wunsch wird individuell mit der betroffenen Person offen und ohne Wertung besprochen. Das weitere Vorgehen kann die betroffene Person mit einer spezialisierten Institution festlegen.» Alexandra Beck erklärt auf Anfrage, dass Sterbewünsche der AZW-Bewohner*innen statistisch nicht erfasst werden. Sie schätzt, dass in den letzten fünf Jahren maximal fünf Menschen diesen Wunsch geäussert haben. In zwei, drei Fällen sei EXIT von den betroffenen Menschen involviert worden, aber es sei bisher nie zur Suizidhilfe (siehe Kasten) gekommen. Es habe auch Fälle gegeben, die EXIT abgelehnt habe. «Äussert ein Bewohner den Wunsch zu sterben, geht es erstens einmal darum hinzuhören. Welche Not besteht? Zweitens geht es um die Frage, was man mit Palliative Care abdecken kann», erläutert Beck das Vorgehen in einem solchen Fall. Vieles könne so abgefedert werden, sodass der Wunsch, mit einer Sterbehilfeorganisation zu sterben, nachlasse.
Bei aktueller Praxis bleiben
Zurzeit kann im Kanton Thurgau jede Institution selbst entscheiden, ob sie Sterbehilfe im Sinne von Suizidhilfe zulässt oder nicht. Curaviva Thurgau, der Branchenverband der Dienstleister für Menschen im Alter, äussert sich in seiner Stellungnahme vom 22. November 2023 kritisch zur eingereichten Initiative. Gemäss Curaviva Thurgau verlangt der Kanton, dass jede Institution ihre Haltung transparent nach aussen kommuniziert. Dies wurde aufgrund einer einfachen Anfrage an die Regierung im Januar 2023 erlassen. Eine generelle Verpflichtung wurde damals abgelehnt. Deshalb hat Curaviva Thurgau eine Liste erstellt, auf der ersichtlich ist, welche Institution wie zur Suizidhilfe steht. Zurzeit sind es etwa 50 Prozent der Institutionen, die Suizidhilfe zulassen, was über 60 Prozent der Pflegeplätze entspricht.
Curaviva Thurgau möchte, dass die aktuelle Praxis bestehen bleibt. Es gebe gute Gründe für beide Haltungen: Für Suizidhilfe spreche die Autonomie des Einzelnen. Dagegen sprächen folgende Faktoren: 1. ethische Bedenken, also die Achtung des Lebens, 2. das Risiko des Missbrauchs und 3. psychologischer Druck. Nur schon das Wissen, dass in einer Institution Suizidhilfe möglich sei, könne für einen betagten Menschen Druck aufbauen. Deshalb würden sich manche Betagte und ihre Angehörigen bewusst gegen eine solche Institution entscheiden. Angeführt wird auch das Pflegeteam, das emotional und moralisch stark belastet werde durch einen Wunsch nach Suizidhilfe. Es könnte der Eindruck entstehen, dass Pflegende versagt haben, da ein Team Können und Herzblut in die Pflege und Betreuung betagter Menschen stecke. Deshalb plädiert Curaviva Thurgau dafür, dass Institutionen in die Möglichkeit der Suizidhilfe hineinwachsen, statt dass diese gesetzlich erwirkt werden.
Aufgrund von Recherchen kann forumKirche noch einen weiteren Punkt hinzufügen: Auch die Mitbewohnenden werden durch einen assistierten Suizid stark belastet. Die Recherchen haben gezeigt, dass es tatsächlich Institutionen gibt, die sich mitten im Prozess befinden hin zur Akzeptanz von Suizidhilfe. Leider konnte forumKirche keine Institution finden, die bereit war, Auskunft zu erteilen, weshalb sie sich gegen Suizidhilfe ausspricht. Dies, obschon der Kanton Transparenz bezüglich Kommunikation verlangt.
Mitarbeitende schützen
Die Belastung des Teams bei einem Wunsch nach Suizidhilfe kennt auch Alexandra Beck. In den Fällen, in denen bereits EXIT ins Spiel gekommen ist, wurden die Mitarbeitenden zu ihrem eigenen Schutz aus dem Schussfeld genommen. «Für solche Fälle ist die Geschäftsleitung zuständig», sagt Beck. «Ein Mitglied der Geschäftsleitung spricht dann mit der Sterbehilfeorganisation. Denn für die Pflegenden ist es eine riesige Belastung.» Diese müssten die Sterbewilligen ja bis zum Ende begleiten – im Wissen um deren Wunsch. Beck hat deshalb jeweils Teamgespräche geführt. «In den Teams kommen unterschiedliche Glaubensvorstellungen zusammen, Ängste und Fragen. Es ist ganz wichtig, in einem solchen Fall über das Thema zu reden und die Mitarbeitenden in diesem Prozess zu begleiten», sagt die Leiterin Pflege und Betreuung. Würde jemand tatsächlich aus dem Leben scheiden mit einer Organisation, würden die Mitarbeitenden adäquat begleitet werden.
Palliative Care im Vordergrund
Im Gespräch mit Alexandra Beck wird klar, dass das AZW den Fokus auf Palliative Care richtet. Diese umfasst mehr als nur medizinische und pflegerische Unterstützung. Es geht darum, bis zum Schluss die Lebensqualität so gut wie möglich aufrechtzuerhalten. Dazu gehören nebst den körperlichen Symptomen auch psychologische, soziale und spirituelle resp. seelsorgerliche Aspekte. Im Zentrum steht die Frage, wie es dem Bewohnenden mit welchen Möglichkeiten am besten geht. Das kann je nach Situation wieder ändern, weshalb das Hinhören sehr wichtig ist. Alexandra Beck erwähnt die gute Zusammenarbeit mit Palliative Plus der Spital Thurgau AG. Das Palliative-Plus-Team ist in erster Linie beratend tätig. Mit diesem Team und in Zusammenarbeit mit weiteren Dienstleistern wie z. B. Hausärzten werden Notfallpläne für einzelne Bewohner*innen erarbeitet. Als Beispiel erwähnt Beck Schmerzpumpen, die bei starken, chronischen Schmerzen zum Einsatz kommen. Bei Problemen damit erhalten die Pflegenden im AZW guten Support durch das Palliative-Plus-Team.
Vorsicht bezüglich Initiative
Bis jetzt ist Alexandra Beck noch kein Fall bekannt, in dem Interessenten oder Angehörige gefragt hätten, wie die Praxis des Heimes bezüglich Sterbehilfe aussehe. Da der Sterbewunsch selten geäussert werde, könne dazu auch keine Tendenz aufgezeigt werden. Nach ihrer Meinung gefragt, wie sie zur Parlamentarischen Initiative steht, wägt sie ab. «Das Haus zu wechseln bei einem Sterbewunsch, ist schwierig. Ich bin sehr für Autonomie, aber ich verstehe Curaviva Thurgau, denn eine Wahl der Institution ist für Bewohner*innen nicht immer möglich.» Grundsätzlich freut sich Beck, dass über das Thema diskutiert wird. Sie sieht die Gesellschaft gefordert, den Menschen in ihrer letzten Lebensphase eine möglichst gute Begleitung zu ermöglichen, damit diese nicht das Gefühl haben, nur noch zur Last zu fallen und Kosten zu verursachen. Die Begleitung sei der zentrale Faktor, damit der Sterbewunsch gar nicht erst aufkomme.
Die Parlamentarische Initiative wird von 73 der 130 Mitglieder des Grossen Rates unterstützt. Gemäss Auskunft des Büros des Grossen Rates vom 10. Januar ist sie pendent. Das bedeutet, dass sich der Regierungsrat noch nicht damit beschäftigt hat. Wann dies der Fall sein wird, konnte nicht gesagt werden.
Béatrice Eigenmann, Detlef Kissner, forumKirche, 25.01.2024
Rund um Sterbehilfe
Das Bundesamt für Justiz unterscheidet verschiedene Arten der Sterbehilfe. Strafbar nach Strafgesetzbuch (StGB) ist die direkte aktive Sterbehilfe. Das wäre der Fall, wenn ein Arzt oder eine Drittperson einem Patienten absichtlich eine Spritze verabreicht, die direkt zum Tode führt. Die indirekte aktive Sterbehilfe ist nicht ausdrücklich geregelt, ist aber erlaubt. Sie bedeutet, dass zur Linderung von Leiden Mittel eingesetzt werden, die die Lebensdauer herabsetzen können – beispielsweise Morphium. Diese Form wird auch in den Richtlinien über Sterbehilfe der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) als zulässig erachtet. Genau so sieht es mit der passiven Sterbehilfe aus, also mit dem Verzicht auf oder dem Abbruch von lebenserhaltenden Massnahmen. Beihilfe zum Selbstmord, auch Suizidhilfe genannt, ist nach Art. 115 StGB nur dann strafbar, wenn jemand «aus selbstsüchtigen Beweggründen» Hilfe zum Selbstmord leistet. Suizidhilfe besteht darin, einem Patienten eine tödliche Substanz zu vermitteln, die der Suizidwillige ohne Fremdeinwirkung selbst einnimmt. Im Rahmen dieses Gesetzesartikels leisten Organisationen wie EXIT Sterbehilfe.
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