Über die Gabe, Ohnmacht auszuhalten

Der Theologe Lukas Fries-Schmid* schrieb letztes Jahr das viel beachtete Buch «Hör auf zu helfen». Nun referiert er darüber am 21. September in Schaffhausen (S. 14f). Im Interview erzählt er, wie Helfen missbraucht werden kann für eigene Bedürfnisse, und warum wir das, was im Leben wichtig ist, nicht selbst herstellen können.

Ihr Buch hat einen provozierenden Titel …
Der Titel möchte mehr sein als nur Provokation. Ich möchte hervorheben, dass Helfen immer auch mit einem Machtgefälle zu tun hat - zwischen denen, die Hilfe suchen, und denen, die Hilfe anbieten. Das Machtgefälle ist einerseits rollenkonform - das ist klar. Auf der anderen Seite ist es verhängnisvoll. 
Als Seelsorgende tun wir so, als ob wir in der Position des Stärkeren wären. Ich glaube, das stimmt so nicht. Wenn jemand Hilfe sucht, ist er in einer Ohnmachtssituation im weitesten Sinne. Wie immer diese Situation auch ist, sie bringt mich als Helfenden in Berührung mit meiner eigenen Ohnmacht, meinen Grenzen. Auf dieser Ebene findet die eigentliche Begegnung statt. Und dort nicht vorschnell auf die Ebene der Macht zu wechseln, indem ich irgendetwas tue, weil ich die Ohnmacht schlecht aushalte - darum geht es mir im Grunde genommen.

Warum helfen viele Menschen so gern? Nur aus altruistischer Motivation?
Ich möchte den Altruismus niemandem absprechen. Aber ich glaube, dass alle, die helfen, eben die Erfahrung machen, dass ihnen das guttut. Dass wir Dankbarkeit und Wertschätzung erfahren, ist per se ja nicht schlecht. Aber es lohnt sich hinzuschauen, warum ich mich nach dieser Anerkennung sehne, die mit dem Helfen meistens verknüpft ist. 
Ein Muster, das mir immer wieder auffällt, ist, dass wir der Tatsache nicht ganz Glauben schenken können, dass wir als Menschen bedingungslos geliebt sind. Damit verbunden ist oft die Vorstellung, dass ich mir die Liebe - auch die Liebe Gottes – irgendwie verdienen muss, dass ich mir meine Bestätigung holen muss. Dankbarkeit von anderen Menschen zu erfahren, ist so eine Bestätigung im weitesten Sinn. Dann fühle ich mich gut, weil ich weiss, die anderen haben mich gern. Die Hauptaufgabe des Menschseins ist es, zu erkennen und annehmen zu können, dass ich geliebt bin - noch vor jeder Leistung.

Welche Gefahren birgt das Helfenwollen?
Vordergründig besteht die Gefahr des Missbrauches im Sinne von: Ich missbrauche den Hilfsbedürftigen, damit ich mich selbst besser fühle. Oder ich biete Hilfe an, die dem Hilfsbedürftigen gar nicht weiterhilft, weil sie meinem Blickwinkel entspringt. Es ist nicht unbedingt eine Hilfe zur Selbsthilfe.
Es besteht die Gefahr, dass wir der Gottesbegegnung, dem Tor zum göttlichen Geheimnis, ausweichen, solange wir immer auf der Ebene bleiben, was wir selbst tun können. Natürlich müssen wir unsere Lebensumstände gestalten und verantworten. Aber ich glaube, es lohnt sich, dem Aspekt der Ohnmacht ein wenig Raum zu geben. Denn Gott kann nur dort ins Leben eintreten, wo wir Macht abgeben.
Das erlebe ich oft auf dem Sonnenhügel. Wo Menschen in die Krise kommen und ohnmächtig sind, verändert sich etwas. Eine Krise ist nicht nur eine Katastrophe, obwohl ich so etwas niemandem wünsche. Nichts mehr tun zu können, kann effektiv ein Tor sein für eine neue Erfahrung. 

Wie kann man in einem guten Sinne helfen?
Es ist nicht einfach, das zu verallgemeinern. Das kommt sehr auf den Kontext an. Von aussen betrachtet, sieht man vielleicht kaum einen Unterschied, ob ich es so oder anders mache. Aber die innere Motivation macht sehr wohl einen Unterschied.
Auf dem Sonnenhügel erfahren wir viel Dankbarkeit, wenn ein Gast abreist und sich seine Situation verbessert hat. Ich antworte dann zugespitzt: «Wir haben ja gar nichts gemacht.» Das einzige, was wir machen, ist, den Rahmen zu gestalten. Dass das Haus sauber ist, man etwas zu essen hat, einen gemeinsamen Tagesablauf erlebt, Gemeinschaft erfährt … Dieses Engagement möchte ich nicht kleinreden. Dafür kann ich auch Dankbarkeit annehmen. Aber es ist nur der Rahmen. Was in diesem Rahmen passiert, entzieht sich unserem Zugriff. Die Heilung lassen wir geschehen, die machen wir nicht selbst. 
Wenn man in dieser Haltung hilft, muss man den Mut haben, das, was sich nicht verändern lässt, stehen zu lassen und trotzdem in Beziehung zu bleiben mit dem Menschen, d. h. ihm treu zu bleiben und es auszuhalten. Das erlebe ich oft in Begleitgesprächen, in denen man miteinander nicht weiterkommt. Dann ist das Gespräch zwar fertig, die Beziehung aber nicht. Das zeigt sich ganz konkret darin, dass wir miteinander zum Essen gehen - im Unterschied zu einer Therapie, wo der Klient heimgeht und der Begleiter Feierabend hat. Bei uns ist weiterhin Beziehung möglich. Das ist ein Geschenk. 

Ohnmacht ist in Ihren Buch ein zentraler Begriff. Warum ist es so wichtig, Ohnmacht auszuhalten?
Weil sie eine Realität im Leben ist. Wir haben nicht über alles Macht. Wir sind aber in einer Gesellschaft daheim, in der die Autonomie des Individuums eine hohe Bedeutung hat. Sich zu behaupten, etwas darzustellen, etwas aufzubauen, verursacht bei vielen Stress. Das sind im weitesten Sinne Machtmittel. Ich tue etwas für das eigene Glück.
Aber das ist nur die eine Hälfte der Wirklichkeit. Die andere Hälfte heisst: Es wächst etwas. Das sieht man anschaulich im Garten. Wir pflanzen, giessen und jäten. Das ist gut so. Aber das Wachstum machen wir nicht. Das lassen wir geschehen. Das ist eine andere Wirklichkeit. Dafür fehlt zum Teil das Bewusstsein in unserer Gesellschaft. 
 

Interview: Detlef Kissner, forumKirche, 29.08.2023


* Lukas Fries-Schmid begleitet auf dem Sonnenhügel in Schüpfheim (LU) Menschen, die sich dort eine Auszeit gönnen. 

Lukas Fries-Schmid
Quelle: Martin Dominik Zemp
Lukas Fries-Schmid studierte Theologie sowie Pastoralpsychologie. Seit 2009 lebt er auf dem Sonnenhügel in Schüpfheim (LU). Im Rhythmus von Aktion und Kontemplation begleitet er dort Menschen in Auszeiten und Krisensituationen.

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