Doku über Freiwillige in der Flüchtlingshilfe
Am 27. September ist Welttag der Migrant*innen und Flüchtlinge. Aktuell zu diesem Thema läuft momentan die Dokumentation «Volunteer» in den Schweizer Kinos. Sie porträtiert mehrere Schweizer Freiwillige, die 2016 nach Griechenland reisten, um den Tausenden in Booten ankommenden Menschen zu helfen. Warum es wichtig ist, ihre Stimmen zu hören, erklärt das Regie-Duo Lorenz Nufer und Anna Thommen im Interview.
Was hat Sie beide zu einem Dokumentarfilm über Schweizer Flüchtlingshelfer bewogen?Lorenz Nufer: Einer der Protagonisten, Michael Räber, ist mein Cousin. Er wurde während einer Ferienreise mit der Situation vor Ort auf Lesbos konfrontiert und hat sich dazu entschieden, zu bleiben und zu helfen. Das hat sehr schnell sehr tiefgreifende Veränderungen in seinem Leben nach sich gezogen, die Wellen in der ganzen Verwandtschaft geschlagen haben. Ich selbst habe mich deshalb dazu entschieden, ein Theaterstück über die Beweggründe freiwilliger Helfer zu inszenieren und während der Recherche zu diesem Stück ist die Idee zum Film entstanden. Anna Thommen: Lorenz hat mir im Januar 2016 von der Filmidee erzählt, auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise. Ich sah in diesem Film die Möglichkeit, einen vertieften Einblick in die Thematik zu erhalten und dadurch die Zusammenhänge besser zu verstehen. Ich fand es wichtig, den Freiwilligen eine Stimme zu geben, weil sie noch etwas Anderes berichten konnten als die Medien oder die Politik.
Die schreckliche Realität, mit der sie konfrontiert sind, bringt die Freiwilligen an die Grenzen ihrer psychischen Belastbarkeit. Was haben Ihre Porträtierten Ihnen darüber erzählt?Anna Thommen: Bei unseren ersten Gesprächen kamen sie gerade erst von ihren Einsätzen zurück und waren noch im Schockmodus. Ein Jahr später haben wir sie nochmals interviewt und in der Zwischenzeit ist sehr viel passiert – auch an Krisen. Das ging bei manchen einher mit Schlafstörungen oder einem plötzlichen Tränenausbruch. Daran hat man gemerkt, dass die Verarbeitung angefangen hat, die teilweise immer noch andauert. Lorenz Nufer: Fast alle Helfer denken anfangs, dass sie sich einem einmaligen Einsatz verpflichten und dann wird daraus für sie ein mehrjähriges emotionales Engagement. Dabei setzen sie sich für ein Problem ein, das zu gross ist, als dass es für sie als Einzelne lösbar ist. Das ist die grosse kognitive Dissonanz, die sie aushalten müssen. Deshalb erleiden viele von ihnen früher oder später eine Art Zusammenbruch und müssen sich für eine Zeit komplett in sich zurückziehen, um sich wiederzufinden. Das hat mich immer sehr betroffen gemacht. Die Menschen zahlen einen hohen Preis für ihr Engagement.
Setzt die Schweizer Rechtsprechung teilweise falsche Schwerpunkte, beispielsweise im Fall von Anni Lanz (siehe forumKirche Nr. 24/19), deren Einsprache vor einigen Wochen vom Berufungsgericht abgelehnt wurde? Oder der Tessiner Grossrätin Lisa Bosia, die 2016 unbegleitete Minderjährige über die Grenze schmuggelte?Anna Thommen: Definitiv. Ich bin schockiert darüber, dass Kinder an Schweizer Grenzen abgewiesen werden, obwohl es ihr Menschenrecht ist, Asyl zu beantragen. Doch ihre Rechte werden dem Dublin-Abkommen untergeordnet. Meiner Meinung nach muss das Kindsrecht immer an vorderster Stelle stehen. Lorenz Nufer: Es ist nicht primär ein Problem der Schweizer Rechtsprechung, sondern hauptsächlich eine politische Entscheidung, die gewisse Rechte aussetzt. Es muss also die richtige Güterabwägung gefällt werden, damit die von freiwilligen Helfern geleistete Hilfe entkriminalisiert wird.
Seit den Dreharbeiten sind ein paar Jahre vergangen. Wie beurteilen Sie die heutige Lage auf den griechischen Inseln?Lorenz Nufer: Durch Corona werden viele private Organisationen daran gehindert, ihre Arbeit zu machen. Ihnen wird nicht erlaubt, in den Lagern selber tätig zu sein. Sie bieten den Flüchtlingen also Verpflegung und Versorgung ausserhalb davon an. Doch diese Unterstützung ist vollständig zum Erliegen gekommen, weil die Flüchtlinge die Lager fast nicht mehr verlassen dürfen. Dadurch haben sie keinen Kontakt mehr zur Bevölkerung und verschwinden aus dem Fokus. Die Schutzmassnahmen können gar nicht eingehalten werden. So ist das Lager Moria auf Lesbos (in dem es Anfang September zu einem verheerenden Brand kam, siehe News S.12, Anm.d.Red.) nur für 2'800 Menschen konzipiert und dort sind momentan über 12'000 Flüchtlinge untergebracht. Es gibt keine Masken, noch nicht einmal ausreichend fliessendes Wasser, um die Hände zu waschen. Die Lage ist katastrophal. Vier Jahre nachdem wir den Film gemacht haben, ist die Situation noch viel schlimmer.
Interview: Sarah Stutte, forumKirche, 15.9.20
Kommentare