Die Aufbrüche des Zweiten Vatikanischen Konzils

Dass die katholische Kirche durchaus in der Lage ist, sich den Herausforderungen ihrer Zeit zu stellen, zeigen die Beschlüsse des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962–65). Im letzten Beitrag zur Serie «Reformen in der Kirche» stellt Prof. Markus Ries dar, wie die Konzilsväter die Kirche als «Volk Gottes» beschreiben und ihr Verhältnis zur Welt und zu anderen Religionen neu bestimmen.

Was bewegte die Kirche nach dem Zweiten Weltkrieg?

Die Erfahrungen dieses Krieges waren für die Kirche sehr belastend. Sie war vom Naziregime bedrängt worden und sah sich wie die von Deutschland annektierten Länder als dessen Opfer an. Bald wurden auch kritische Fragen zur Rolle der Kirche während dieser Zeit gestellt. Im Blick auf die Judenverfolgung fragte man sich, ob man sich mutig genug zum Anwalt der Opfer gemacht hatte.

Was führte zur Einberufung des Zweiten Vatikanischen Konzils?

Zum einen war es diese generelle Verunsicherung, die Papst Johannes XXIII. dazu veranlasste, ein Konzil einzuberufen. Zum anderen war es ein innerkirchlicher Reformstau, vor allem in der Liturgie. Die Liturgiebewegung hatte schon vor dem Konzil – entgegen geltendem Recht – unter anderem damit experimentiert, die Messe zum Volk hin zu feiern.

Vor Beginn des Konzils konnten die Bischöfe Voten einreichen, über welche Themen gesprochen werden sollte. Rückblickend ist es erschütternd zu sehen, welch banale Themen (z. B. Details zum Stundengebet) damals eingereicht wurden. Am eindrücklichsten ist die Stellungnahme von Hans Küng, dem die innerchristliche Ökumene am Herzen lag. Er schlug eine Änderung des Index-Verfahrens vor: Bevor eine Veröffentlichung in das Verzeichnis der verbotenen Bücher (Index Librorum Prohibitorum) komme, solle der Autor künftig ein Recht auf Anhörung haben. Auf den Index ganz zu verzichten, wagte der junge Theologe nur als Extremvariante zu fordern.

Um welche Hauptthemen ging es bei den Treffen des Konzils?

Zunächst ging es um die Liturgie als Grundvollzug der Kirche und um Kirchenstrukturen. Das persönliche Anliegen von Johannes XXIII. war es, das Verhältnis von Kirche zur Welt neu zu bestimmen. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sah sich die Kirche selbst in Distanz zu dieser Welt. Man ging davon aus, dass für sie irdische Gesetzmässigkeiten und Massstäbe nicht gelten. Beim Konzil ist nun der Versuch zu beobachten, einen kreativen Dialog aufzunehmen. Man stellte fest, dass nicht alles schlecht ist, was es in dieser Welt gibt, so z. B. die liberalen Staatsformen mit ihren Freiheitsrechten und demokratischen Strukturen, denen man bisher noch sehr reserviert begegnet war. Durch die Erfahrung mit totalitären Systemen (Faschismus und Kommunismus) wuchs die Bereitschaft, diese Freiheiten zu bejahen. Man konnte sich eingestehen, dass sie für die Religion nicht schädlich, sondern eine Voraussetzung dafür sind, dass Gerechtigkeit auch im christlichen Sinn hergestellt werden kann.

Welches waren die wichtigsten Ergebnisse?

In der ersten Konzilsperiode wurde die Liturgiereform beschlossen, die danach eifrig umgesetzt wurde. Kritiker meinten später, dass diese Reform überinterpretiert worden sei, dass man Veränderungen vornahm, die vom Konzil so nicht gemeint waren. Durch die Anerkennung der Freiheitsrechte rückte auch die Religionsfreiheit in den Fokus. Die Konzilsväter gestanden es jedem Menschen zu, seine Religion frei wählen zu können, und bekundeten, diese Wahl zu respektieren. Das führte auch dazu, eine innerchristliche Pluralität (Ökumene) zu bejahen. Es gibt nicht einfach ein «Wahr» und ein «Falsch». Damals war man zwar der Meinung, dass die katholische Kirche die vollkommene Form der Kirche Jesu Christi sei, dass diese sich aber in unterschiedlicher Weise auch in anderen Kirchen oder kirchlichen Gemeinschaften verwirkliche. Das öffnete den Weg zur Ökumene.

Wie wirkte sich die Öffnung gegenüber anderen Religionen auf das Verhältnis zum Judentum aus?

Aus katholischer Sicht waren Jüdinnen und Juden traditionell jene, die die Botschaft Jesu nicht angenommen hatten, die an seiner Kreuzigung beteiligt waren. Das Konzil anerkannte die historische und theologische Abhängigkeit der christlichen Tradition von der jüdischen. Es gibt eine gemeinsame Wurzel. Die traditionelle Sicht, dass das Leid der Juden eine Strafe für ihren Mord an Jesus sei, wurde nun abgelehnt, ebenso die Vorstellung von der Massenbekehrung aller Jüdinnen und Juden am Ende der Zeiten. An diese Stelle trat ein partnerschaftliches Verständnis: Die Juden sind weiterhin das erwählte Volk Gottes. Gott hat mit ihnen zuerst einen Bund geschlossen, die Christen haben mit Jesus eine weitergehende Verkündigung erfahren, die den ersten Bund aber nicht aufhebt.

Und was bewegte sich innerkirchlich?

Das pyramidale Verständnis von Kirche, das von der Schöpfung Gottes über die Erlösung Jesu Christi zu den Aposteln, Bischöfen, Klerikern und schliesslich zu den Gläubigen führt, wurde aufgebrochen. Die Kirche wurde nun als pilgerndes Volk Gottes verstanden, das als Ganzes berufen ist. Die Ämter wurden in einem erweiterten Sinn verstanden. Die Aufgabe des Bischofs wurde beispielsweise nicht mehr in der Aufsicht über die Gemeinden gesehen, sondern in der Förderung der verschiedenen Charismen (Gaben Gottes).

Wo gab es die grössten Widerstände?

Kritik regte sich vor allem in Bezug auf diese neue Sicht der Kirche. Manche empfanden sie als Traditionsbruch. Sie sahen vor allem den päpstlichen Primat, der im Ersten Vatikanischen Konzil (1869–70) herausgestellt wurde, in Frage gestellt. In Bezug auf die Annäherung an das Judentum meldeten Christinnen und Christen aus Palästina Bedenken an. Sie befürchteten, dass dieser Schritt als einseitige Stellungnahme für die Juden im Konflikt zwischen Israel und Palästina gedeutet und ihre eigenen Anliegen dadurch vernachlässigt werden würden.

Wie wurden die Beschlüsse des Konzils in den nachfolgenden Jahren umgesetzt?

Ähnlich wie nach dem Konzil von Trient (1545–63) wurden die Beschlüsse «von oben nach unten» umgesetzt. So wurden die Änderungen im Rahmen der Liturgiereform von Rom aus vorgegeben.
Zusätzlich fanden in allen Ländern Synoden statt. In diesen lokalen Kirchenversammlungen wurde beraten, wie die 16 Konzilsdokumente konkretisiert werden können.

Welche Veränderungen wurden bei der Schweizer Versammlung, der Synode 72 (1972–75), auf den Weg gebracht?

Die wichtigsten Änderungen betrafen den Bereich der Ökumene. Es wurde die Möglichkeit eröffnet, zukünftig bekenntnisverschiedene Ehen zu schliessen. Bei der Konversion zur katholischen Kirche war keine zusätzliche Taufe mehr nötig. Ausserdem wurde der Lektorinnen- und Kommunionhelferdienst eingeführt. Es wurde eine Heraufsetzung des Firmalters und eine Intensivierung der Ehevorbereitung empfohlen. Kontrovers wurde die Frage des Militärdienstes bzw. der Kriegsdienstverweigerung diskutiert. In diesem Punkt konnte sich die Synode nicht auf eine gemeinsame Stellungnahme einigen.

Interview: Detlef Kissner (17.9.19)

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Am Zweiten Vatikanischen Konzil nahmen etwa 3000 Personen teil, 2498 davon waren stimmberechtigt.

Bild: Lothar Wolleh/Wikimedia Commons

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