Die Heroes der «Tanne»

Am 3. Dezember ist Internationaler Tag der Menschen mit Behinderungen. Längst nicht alle unter ihnen, die es gerne tun würden, arbeiten in der Schweiz im ersten Arbeitsmarkt. forumKirche hat sich in einem Betrieb in Schaffhausen umgesehen, der zur Hauptsache Menschen mit Handicap beschäftigt.

Claudine-Sachi Münger hat mit der «Tanne», wie die tanneschaffhausen in der Bevölkerung genannt wird, ihr Herzensprojekt umgesetzt: Das traditionsreiche ehemalige Hotel ging nach dem Tod der letzten Besitzerin an die Stadt. Diese liess das Haus sanft renovieren und schrieb einen Ideenwettbewerb aus für die Pacht. Claudine-Sachi Münger erhielt mit ihrem Businessplan den Zuschlag: Sie als Geschäftsführerin und drei weitere Personen arbeiten zusammen mit 12 Menschen mit Handicap, die Münger liebevoll als ihre Heroes bezeichnet. Heute ist die «Tanne» eine gemütliche Weinstube, an dessen Interieur aus dunklem Holz nichts geändert wurde. Die ehemaligen Hotelzimmer wurden zu möblierten Studios mit Service umgebaut. In einem Raum im Erdgeschoss befindet sich der Tannelade. Dort werden Produkte regionaler Produzent*innen und Kunsthandwerker*innen verkauft. Die Heroes arbeiten im Service für die Weinstube, in der Küche, im Tannelade oder erbringen Dienstleistungen für die Studios (Wäsche und Reinigungsdienst). 

Cousine als Inspiration 
Claudine-Sachi Münger hatte eine Bilderbuchkarriere hingelegt: Nach der Matur in Solothurn studierte sie Betriebswirtschaft an der Universität St. Gallen, wo sie auf Karriere und Geldverdienen getrimmt wurde. Dann kletterte sie stufenweise die Leiter hoch in einem Unternehmen, übernahm Leitungsfunktionen. Sie kam nach Schaffhausen, heiratete und wurde Mutter zweier Kinder. 
Nach Veränderungen im privaten Bereich nahm Münger 2018 ein Coaching in Anspruch, weil sie merkte, dass sie etwas ändern wollte in ihrem Leben. Mithilfe des Coachings entwickelte Münger die Vision eines Begegnungsortes von Menschen mit und ohne Handicap. Ausgelöst hatte dies der dreimonatige Besuch ihrer Tante und Cousine aus Japan. Die Cousine wurde mit dem Down-Syndrom geboren. Müngers Tante zeigte grosses Interesse daran, wie Menschen mit Handicap in der Schweiz in die Gesellschaft eingegliedert werden. Deshalb ermöglichte Münger ihr ein Gespräch mit dem Schaffhauser Unternehmen mitschaffe.ch. Diese ist der schweizweit einzige Personalverleih, der ausschliesslich Menschen mit Handicap vermittelt. Nachdem Münger den Zuschlag für die «Tanne» erhalten hatte, suchte sie mit Unterstützung von mitschaffe.ch die geeigneten Mitarbeiter*innen. 

Ganzheitlicher Ansatz
«Ich werde immer wieder gefragt, wie ich meine Heroes führe im Vergleich zu früher», erzählt Claudine-Sachi Münger. «Ich sage dann jeweils: Ich führe nicht anders als vorher. Ich sehe die Menschen als Ganzes. Jeder Mensch will doch wahrgenommen werden mit seinen Bedürfnissen und Eigenheiten.» Schon früher war sie informiert darüber, wie es ihren Mitarbeitenden geht und wie es in deren familiärem Umfeld aussieht. Für die 44-Jährige heisst Führen auch, Verantwortung zu übernehmen. Das kann sie nur, wenn sie ihre Mitarbeitenden nicht nur auf die Leistung reduziert. Diesen familiären Geist spürt man, wenn man die Weinstube besucht. Die Heroes sind mit Herzblut dabei. 

Offene Stellen im Thurgau
Dass die «Tanne»-Heroes so engagiert sind, wundert Thomas Bräm nicht. Er hat Ende 2013 zusammen mit seiner Frau Barbara das Unternehmen mitschaffe.ch gegründet. «Da wir nur Menschen vermitteln, die unbedingt im ersten Arbeitsmarkt tätig sein wollen, ist deren Motivation sehr hoch», erklärt er. Bräm hatte 12 Jahre lang eine Institution für Menschen mit Handicap geleitet. Einige von ihnen traten immer wieder an ihn heran mit dem Wunsch, im ersten Arbeitsmarkt zu arbeiten – beispielsweise in einer Autogarage oder in einem Hotel - statt an einem geschützten Arbeitsplatz. Eine Umfrage bei regionalen Unternehmen zeigte auf, weshalb diese keine Menschen mit Handicap anstellen wollen: 1. Sie wissen nicht, wie sie mit solchen Menschen umzugehen haben. 2. Sie scheuen administrativen Mehraufwand. 3. Sie wissen nicht, wie sie bei Schwierigkeiten reagieren sollen. Deshalb wagte Bräm den Schritt in die Selbständigkeit. mitschaffe.ch deckt das Backoffice ab, berät Arbeitsuchende und potenzielle Arbeitgeber*innen und stellt Arbeitnehmenden und Arbeitgebenden als Hauptansprechperson einen Job-Coach zur Seite, was ganz wichtig ist. Vermittelt werden Menschen mit körperlicher oder geistiger Beeinträchtigung. «Oft haben diese Menschen in ihrem Umfeld gehört: Das kannst du nicht. Gibt man ihnen eine Chance, können sie sich nicht nur beruflich entwickeln, sondern auch menschlich. Das beobachte ich mit grosser Freude», erzählt Bräm. Da mittlerweile von überall aus der Schweiz Anfragen von Arbeitswilligen und Unternehmen hereinkommen, hat er sogenannte Job-Coaching-Satelliten aufgebaut. Auch im Thurgau gibt es eine Job-Coachin, die auf Mandatsbasis für mitschaffe.ch arbeitet. Zurzeit sind im Thurgau drei Stellen unbesetzt, was Bräm schade findet. Er ist überzeugt, dass Inklusion dazu beitragen kann, dem herrschenden Fachkräftemangel entgegenzuwirken. In der Regel bleiben die Leute an der Stelle, die man ihnen vermittelt hat. Sie identifizieren sich stark mit der Firma, für die sie arbeiten, und tragen mit Stolz die Firmenkleidung.

Mitgestalten
Das trifft auch auf die «Tanne» zu: Bis auf zwei Personen sind seit der Eröffnung noch immer alle dabei – und es sind noch weitere dazugekommen. «Die Eröffnung der <Tanne> im April 2019 hat uns als Team zusammengeschweisst«, berichtet Münger. «Damals wurden wir regelrecht überrannt. Statt der erwarteten 200 waren es 600 Gäste. Ich kam gar nicht dazu, meine Heroes aufzusuchen. Ich konnte nur darauf vertrauen, dass sie dem Sturm standzuhalten vermögen», schildert Münger diesen ausserordentlichen Tag, der alle an ihre Grenzen gebracht hat. Das Zusammengehörigkeitsgefühl wird gefördert durch gemeinsame Ausflüge und Erlebnisse. Zudem dürfen die Mitarbeitenden ihre Ideen einbringen und an Entscheidungen teilhaben. «Meine Heroes haben so tolle Ideen, ich muss sie nur einbeziehen. Inklusion ist eine Haltung gegenüber allen Menschen», erläutert Münger. «Ich will Menschen auf Augenhöhe begegnen, ihnen Raum geben zur Entwicklung. Leute zu führen, bedeutet loszulassen, das Vertrauen zu haben, dass sie das schaffen. Ihnen die Sicherheit zu geben, dass alles gut ist, damit sie den Mut haben, einen Schritt weiterzugehen. Schlimm ist es, wenn sie in einer Kultur arbeiten müssen, in der sie Angst haben, Fehler zu machen.»

Ideen gefragt
Da ihre Heroes während der Lockdowns nicht untätig zu Hause herumsitzen mochten, kam Münger auf die Idee, mit ihnen Saucen einzukochen und Ravioli mit verschiedenen Füllungen herzustellen und in regionalen Lebensmittelläden anzubieten. Eine Mitarbeiterin fotografierte die Produkte des Tannelade für den Onlineshop. Dank Müngers Netzwerk konnte beispielsweise ein Hero während dreier Wochen für ein Malergeschäft Strassenmalkreide herstellen, ein anderer Mahlzeiten mit einem Transportvelo ausfahren. Es gab auch Aufträge, um Flyer zu verteilen.
Da die «Tanne» eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung ist, muss sie wirtschaftlich funktionieren. Deshalb hat Münger die Öffnungszeiten während der Coronazeit ein paarmal angepasst, um rentabel zu bleiben. Mittlerweile ist die Weinstube wieder gewohnt offen. Münger weitet ihr Netzwerk immer weiter aus. Seit August 2021 sind fünf Heroes im Café mit Herz tätig, einem Shop-in-Shop-Ableger der «Tanne» in einem Schönheitsinstitut – mittlerweile ganz selbständig. Die Mitarbeitenden dekorieren ihr Café liebevoll, kreieren neue Getränke und die operative Leiterin postet regelmässig auf Social Media

Lieblingsarbeiten 
Für Münger ist es ein ständiges Herantasten an die Fähigkeiten ihrer Mitarbeitenden und an das Mass an Unterstützung, die jede*r benötigt. So werden die Einsatzpläne basierend auf den Möglichkeiten der einzelnen Leute erstellt. Ein Hero beispielsweise liebt das Rüsten von Gemüse und Kartoffeln über alles. An der Front kann man ihn aber nicht einsetzen. Von einem anderen Hero musste sie sich sagen lassen, dass sie nicht so viele Details zu erklären brauche. Münger versucht, allen gerecht zu werden und sie immer selbständiger werden zu lassen. Und sie ist davon überzeugt, dass man nur gut arbeitet, wenn man das tut, was einem am besten liegt: «Ich habe meine Heroes gefragt, welche Arbeiten sie am liebsten machen. Aufgrund dieser Rangliste habe ich ihnen dann die Tätigkeiten zugewiesen, die sie auf Platz eins und zwei gesetzt haben.» 
Dass ihre Art den Teamgeist fördert und die Mitarbeitenden bestärkt, zeigt sich darin, dass sie morgens schon einmal mit einem Blumenstrauss überrascht wird von einer dankbaren Mitarbeiterin oder dass die Heroes auch in schwierigen Zeiten zusammenstehen. Beispielsweise, als im Herbst 2021 ein Mitarbeiter ins Spital eingeliefert werden und sich einer schweren Operation unterziehen musste. Dank der Unterstützung seiner Kolleg*innen arbeitet er nun wieder stundenweise. Er wollte unbedingt zurück an die Arbeit in der «Tanne». «Noch nie hat er sich an einer Arbeitsstelle so wohlgefühlt, haben mir seine Angehörigen anvertraut», erzählt Claudine-Sachi Münger. 
 

Béatrice Eigenmann, forumKirche, 17.11.2022

Claudine-Sachi Münger in der Weinstube Tanne mit Mitarbeiterin Zelda Mäder
Quelle: Béatrice Eigenmann
Claudine-Sachi Münger (l.) in der Weinstube Tanne mit Mitarbeiterin Zelda Mäder

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Thomas Bräm
Quelle: Béatrice Eigenmann
Thomas Bräm, Gründer von mitschaffe.ch, dem Personalverleih von Menschen mit Handicap​​

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