Porträt einer Hundertjährigen

«Wenn’d öppis suechsch, go zu de Frau Tenini, die hett alles!» Tabak, Süssigkeiten, Zeitschriften, sogar Kirchengesangsbücher. Die Kinder bekamen jeweils ein Guetzli. Das waren schöne Jahre, erinnert sich die 100-jährige Katharina Tenini. 

«Ich bin im Kanton Luzern, in Reiden auf einem abgelegenen Hof, auf einem Hügel aufgewachsen. Überall hin hatten wir eine Stunde, in die Schule, in die Kirche… Das Hinuntergehen machte Spass, weil wir ein Wettrennen machten, wer zuerst unten ist. Der Heimweg dagegen war viel anstrengender. Als Älteste von fünf Schwestern musste ich überall mithelfen. 'Mach das, mach dieses', hiess es. Die Erziehung war strenger als heute. Da musste man einfach spuren!» Katharina Tenini erzählt dies mit einem verschmitzten Lachen und einem gewissen Schalk in den Augen. So als hätte sie Wege und Mittel gefunden, damit umzugehen. «Wir hatten 15 Kühe und ein Ross. Wissen Sie was ein Göppel ist?», fragt sie mich. Ein Velo? «Nein, das ist eine lange Stange, die dem Ross hinten angebunden wurde. Ich musste das Ross über das Getreide führen und mit der langen Stange wurde das Korn gedrescht. Ich war die einzige, die mit dem Ross umgehen konnte. Ich bin auch geritten, ganz allein in den Wald hinein und über Stock und Stein. Die anderen trauten sich nicht, hatten Angst und sagten: 'Die Käthi fürchtet weder Tod noch Teufel!'»
«Später ging ich 3 Jahre nach England zu einer Lady, die sehr wohlhabend war. Ich kochte und machte den Haushalt und lernte dabei sehr gut Englisch. Yes, I speak still very well the English language!», lacht sie und ihre Augen leuchten. «Als ich für einen Besuch zurück in die Schweiz kam, machte mich meine Tante aus Weinfelden darauf aufmerksam, dass es einen freien Laden gibt. 'Wäre das nicht etwas für dich, Käthi?' Ich schaute mir das Geschäft an, stimmte zu und gab meine Stelle in England auf. So zog ich nach Weinfelden und führte 33 Jahre lang den Tabakladen an der Rathausstrasse». 

«Ich bereue nichts»

«Ich war ein Reisevogel! Mit meiner Tante reiste ich 1954 mit dem Schiff nach Afrika, nach Tanganjika (Tansania). Die einfache Lebensweise und gleichzeitig die Zufriedenheit der Einheimischen beeindruckten mich. Mit Ross und Wagen fuhren wir ins Land hinaus um Löwen, Giraffen, Zebras zu beobachten. Ich durfte die Hand nicht aus dem Wagen halten, die Löwen kamen ganz nah heran.» Hatten Sie nie Angst? Katharina Tenini schüttelt den Kopf, lacht und sagt: «Nein, wozu auch! Ich hatte immer Glück und bin gut durchgekommen. Ich bereue nichts!»
«Mit 40 Jahren heiratete ich Herr Tenini, meinen Nachbarn. Er war ein guter Turner, immer zuoberst auf der Stange, ein richtiger Akrobat! Später bekamen wir ein Mädchen und einen Jungen. Leider starb der Bub mit 9 Monaten, weil er krank war. Das war schwer für mich.» Auf die Frage, was ihr geholfen habe, den Schmerz zu überwinden, sagt sie, die guten Kolleg*innen, die ihr zur Seite gestanden seien. 
Wie kommt man zu einer solch positiven Lebenseinstellung? «Da muss man selber an sich schaffen. Ich bin einfach auf die Leute zugegangen. Wenn ich jemanden nicht kannte, fragte ich, ob sie von Weinfelden sind. So kam ich mit den Menschen ins Gespräch. Ich hatte keine Angst, weder vor Menschen noch vor sonst etwas. Auch jetzt, im Alterszentrum gehe ich unter die Leute und habe noch immer Freude am Leben.»

Ursi Häfner-Neubauer, 5.521

Sie scheut sich nicht auf andere zuzugehen, die 100-jährige Katharina Tenini aus Weinfelden.
Quelle: Ursi Häfner-Neubauer
Sie scheut sich nicht auf andere zuzugehen, die 100-jährige Katharina Tenini aus Weinfelden.

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