Ein Rabbiner und ein Vizepräsident einer jüdischen Gemeinde zur aktuellen Situation

In Zürich und Basel sehen sich Jüdinnen und Juden mit Antisemitismus konfrontiert. forumKirche wollte wissen, wie es der jüdischen Gemeinde in St. Gallen geht.

«Es ist alles anders geworden, seit ich im August 2022 in St. Gallen meine Arbeit aufgenommen habe. Mit den aktuellen Herausforderungen habe ich nicht gerechnet», sagt Rabbiner Shlomo Tikochinski. Der Terrorangriff der Hamas vom 7. Oktober hat auch Roland Richter, heutiger Vizepräsident der Jüdischen Gemeinde St. Gallen, sehr betroffen gemacht. Er erzählt, er habe Tränen in den Augen gehabt, als er beim Lesen der Nachrichten aus Israel ein getötetes Mädchen im Alter von 12 Jahren gesehen habe.  «Ich habe sofort an meine 14-jährige Enkelin gedacht, die in Israel lebt.»

Vertrauen stärken
Rabbiner Tikochinski hat vier Kinder und vier Enkelkinder in Israel, die alle in der Umgebung von Jerusalem leben, wo es relativ ruhig ist. Er war kurz nach dem Terrorangriff für eineinhalb Wochen in Israel. Nächstens wird er wieder nach Israel fliegen, da zwei Hochzeiten und weitere Festlichkeiten anstehen. Seine Kinder und viele in deren Umfeld versuchen, den Kindern den Krieg so zu vermitteln, dass diese trotz allem mit Vertrauen in die Menschheit aufwachsen. 

Ein Zwischenfall
Abgesehen von einem kleinen Zwischenfall gibt es zurzeit in St. Gallen keine Provokationen. Roland Richter erzählt, am Sonntag, 15. Oktober, seien ein paar Gemeindemitglieder nach dem Gottesdienst im Innenhof gestanden. Von der Strasse her habe jemand gesagt: «Ach, die Juden treffen sich mal wieder.» In St. Gallen seien die Juden nicht sichtbar, da keiner in einer jüdischen Tracht herumspaziere. Er lobt die Kooperation mit der Polizei. Diese ist im Vorfeld einer Pro-Palästina-Demonstration auf die Gemeinde zugekommen und hat darum gebeten zu melden, wenn es zu Vorfällen kommen sollte. Deshalb ist ein junger Vertreter der Jüdischen Gemeinde mit dem Einsatzleiter der Polizei an der Demonstration gewesen. Zudem sind die Sicherheitsvorkehrungen erhöht worden. Es gebe kollektive und individuelle Schutzmechanismen, sagt der Vizepräsident. «Ich selbst setze mich nicht mehr mit Unbekannten an einen Biertisch. Es kommen sonst Dinge heraus, die ich nicht hören möchte.»

Alte Verschwörungstheorien
Wenn sein christliches schweizerisches Umfeld fragt, was es tun könne für die jüdische Gemeinschaft, antwortet Roland Richter: «Wenn ihr irgendwelche unbewusste antijüdische Äusserungen hört, dann fragt: <Wie meinst du das?> Macht durch Fragen die betreffende Person darauf aufmerksam, was sie geäussert hat. Denn genau solche unhinterfragten Äusserungen bestärken die Judenhasser in ihrer Haltung.» Und er holt aus: Seit dem ersten Jahrhundert ist es immer wieder zu Judenverfolgungen gekommen. Das vierte Laterankonzil von 1215 hat den Juden den Stempel der Geächteten aufgedrückt. Und weil im Unterschied zur christlichen Bevölkerung viele Juden im 14. Jahrhundert von der Pest verschont blieben aufgrund der Hygienevorschriften – insbesondere des Händewaschens –, entstand die Theorie, die Juden hätten die Pest verursacht, weil sie nach der Weltherrschaft strebten. Das ist ins kollektive Bewusstsein eingegangen und erzeugt eine antijüdische Grundhaltung, die bei Bedarf wieder hochkommt. «Kaum war die Pandemie etwas abgeebbt, realisierten die Menschen beim täglichen Einkauf die wirtschaftlichen Folgen davon aufgrund der Inflation. Deshalb poppte die alte Verschwörungstheorie wieder auf, die Pandemie und die Inflation seien von den Juden gesteuert», erklärt Richter. Weil Religionen dazu prädestiniert sind, sich gegenüber anderen abzugrenzen, ist er skeptisch, was den interreligiösen Dialog betrifft.

Fragen stellen
Rabbiner Tikochinski sieht das etwas anders: «Zu den interreligiösen Treffen kommen Menschen ohne Vorurteile. Es muss irgendwann einmal einen Wechsel geben. Es geht darum, dass jeder sein kleines Teilchen zur Verständigung beiträgt. Wenn diese Menschen mich kennenlernen, dann höre ich oft: <Das hätte ich nicht gedacht von einem Rabbiner.> Aber klar, wir Vertreter der einzelnen Religionen können schöngeistige Gespräche führen, wir sind aber nicht die ganze Gemeinde.» Er habe keine Angst vor Fragen. Man solle sowieso viel mehr Fragen stellen oder infrage stellen – selbst das Göttliche. Roland Richter antwortet sofort: «Das kannst du nur, weil du ein tiefgehendes talmudisches Wissen hast. Der Talmud ist ein Protokollbuch über Diskussionen, die auch Widersprüchliches besprechen – bis ins Extreme.»

Béatrice Eigenmann, forumKirche, 29.11.2023
 

Roland Richter und Rabbiner Shlomo Tikochinski
Quelle: Béatrice Eigenmann
Roland Richter, Vizepräsident der Jüdischen Gemeinde St. Gallen, und Rabbiner Shlomo Tikochinski

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