Ein Lehrplan für beide Konfessionen
Kompetenzen von Kindern und Jugendlichen zu fördern, ist ein zentrales Anliegen moderner Pädagogik. Diesem Anspruch soll auch der Religionsunterricht im Thurgau genügen. Deshalb haben die evangelische und die katholische Landeskirche einen gemeinsamen Lehrplan erarbeitet, dessen Einführungsphase nun beginnt und der im August nächstes Jahr in Kraft tritt.
Mit der Annahme des Bildungsartikels in der Volksabstimmung vom 21. Mai 2006 war die Grundlage dafür geschaffen, das Bildungswesen in der Schweiz zu harmonisieren. Ziel war es, einen gemeinsamen Lehrplan für die Volksschule in den 21 Kantone der Deutschschweiz zu erstellen. Nach einem intensiven Prozess in zwei Phasen lag Ende 2014 die endgültige Version des Lehrplans 21 vor, der im Unterschied zu bisherigen Lehrplänen nicht mehr Inhalte und Wissen, sondern Kompetenzen von Schüler*innen voranstellte. Der neue Lehrplan sollte den Kantonen als Vorlage für die Überarbeitung ihrer Volksschullehrpläne dienen. Im Thurgau wurde diese Anpassung bereits im Dezember 2016 vorgenommen. Diese Neuausrichtung der Unterrichtsplanung auf deutschschweizerischer und kantonaler Ebene wirkte sich auch auf den Religionsunterricht aus. «Aus pädagogischer Sicht machte es Sinn, den Lehrplan für den Religionsunterricht ebenfalls an - zupassen. Damit konnte seine Anschlussfähigkeit zum Lernort Schule bewahrt werden», sagt Daniel Ritter, Leiter der Fachstelle Religionspädagogik (REP) der katholischen Landeskirche Thurgau. So wurde analog zum Lehrplan 21 der Lehrplan für die Katholische Kirche in der Deutschschweiz (LeRUKa) entwickelt und per 1. August 2017 in Kraft gesetzt. Dieser dient als Grundlage bei der Erstellung der kantonalen Lehrpläne für Religionsunterricht.
Was bedeutet «kompetenzorientiert»?In früheren Lehrplänen wurden Inhalte definiert, über die Schüler*innen Bescheid wissen sollten. «Es wurden zum Beispiel biblische Geschichten behandelt, weil sie in sich wichtig erschienen», sagt Daniel Ritter. Kompetenzorientiertes Lehren geht hingegen stark von der Lebenssituation der Schüler*innen aus und fragt, welche Fähigkeiten junge Menschen benötigen, um ihr Leben meistern zu können. Diese neue Ausrichtung sei auch veränderten Biographien geschuldet, meint der Theologe: «Früher verliefen Lebenswege gradliniger, heute sind Wechsel vorprogrammiert.» Globalisierung und Mobilität fordern Menschen heraus, bringen sie mit unterschiedlichen Lebensentwürfen in Berührung. Schüler*innen müssen mehr denn je darauf vorbereitet werden, unvorhergesehenen Anforderungen begegnen zu können. Zudem ist kompetenzorientiertes Lehren ganzheitlicher ausgerichtet als stofforientiertes. Der Kompetenzbegriff umfasst nämlich nicht nur die kognitive Ebene, also Wissen und Verstehen-können, sondern auch Fertigkeiten und konkretes Handeln, ebenso wie Haltungen, die bewusste Entscheidungen ermöglichen.
Kompetenzen und InhalteWird damit all das, was früher gelehrt wurde, unwichtig? «Der Vorwurf, kompetenzorientiertes Lehren sei wie ‹Stricken ohne Wolle›, stimmt so nicht», stellt Daniel Ritter klar, «Inhalte sind weiterhin wichtig. Sie tragen nämlich dazu bei, Kompetenzen zu erlangen. » Er verdeutlicht dies an einem Beispiel: Es sei wenig sinnvoll, die Namen der zwölf Apostel auswendig zu lernen. Dennoch könne es für junge Menschen wertvoll sein, am Beispiel der Apostel zu erfahren, was Nachfolge bedeute. Es lohnt sich seiner Ansicht nach auch, Lerninhalte zu individualisieren, z. B. dass sich Schüler*innen einen Psalm heraussuchen können, der sie anspricht und mit dem sie sich intensiver beschäftigen möchten. Den grössten Vorteil von kompetenzorientiertem Lehren sieht Daniel Ritter darin, dass es stärker die Schüler*innen und deren Situation im Blick hat und diese sich dadurch mehr angesprochen fühlen. Dies fordere allerdings Lehrer*innen auch heraus, sich auf kooperative Lernformen einzulassen, was vor allem bei geringen Stundenzahlen sehr anspruchsvoll sei. Der Vorstellung, mit Hilfe des Religionsunterrichtes sämtliche Kompetenzen des Lehrplanes vermitteln zu können, erteilt er eine klare Absage: «Das wäre eine Überforderung. Es braucht neben der Schule weitere Lernorte wie die Pfarrei – z. B. die Erstkommunionvorbereitung oder Gottesdienstbesuche –, die Familie, die Medien und die Öffentlichkeit.»
Grosse SchnittmengeIm Thurgau verständigten sich der evangelische und der katholische Kirchenrat darauf, die bestehenden Lehrpläne für den Religionsunterricht im Sinne des Lernplans 21 gemeinsam zu überarbeiten. Ziel war es, auf der Basis des LeRUKa einen konfessionellen Lehrplan zu erstellen, der sowohl für den evangelischen, als auch den katholischen, als auch den ökumenischen Unterricht verwendet werden kann. Eine Projektgruppe, bestehend aus Fachleuten beider Konfessionen, erarbeitete einen Entwurf, der seit Frühjahr 2020 auf https://dev.lehrplan-ru.ch digital aufgerufen werden kann. In diesem sind sechs Kompetenzbereiche aufgeführt, die hinsichtlich der vom Lehrplan 21 eingeführten Bildungszyklen ausdifferenziert werden. Der 1. Zyklus umfasst den Kindergarten und das erste und zweite Schuljahr, der 2. Zyklus das dritte bis zum sechsten Schuljahr und der 3. Zyklus das siebte bis zum neunten Schuljahr. Lediglich im Kompetenzbereich «Glauben feiern» werden im 2. Zyklus die Kompetenzen nach Konfessionen unterschieden. «Auf katholischer Seite ist die Ausrichtung an den Kompetenzen verpflichtend, auf evangelischer Seite darüber hinaus auch die Anwendung bestimmter In - halte», beschreibt Daniel Ritter einen weiteren konfessionellen Unterschied.
Webseite mit hoher FunktionalitätDer Theologe ist froh, dass es für beide Konfessionen einen gemeinsamen Lehrplan gibt. Das erleichtere die Absprache mit der Volkschule, vor allem mit Lehrpersonen, die verwandte Themen im Fach «Ethik Religionen Gemeinschaft» (ERG) unterrichten. Die digitale Darstellung des Lehrplans bietet weitere Vorzüge. Zum einen lässt sich einfach zwischen den einzelnen Kompetenzbereichen hin- und her manövrieren, zum anderen können in zusätzlichen Materialsammlungen, Medien direkt aufgerufen oder in der Ausleihe bestellt werden. «Mit der Zeit werden auch mehr Aufgabensets abrufbar sein, die konkrete Möglichkeiten zur Unterrichtsgestaltung bieten», so Ritter. Der katholische Kirchenrat stimmte dem Entwurf des Lehrplans bereits zu. Auf evangelischer Seite wird derzeit noch das Ergebnis einer Vernehmlassung aufgenommen. Mögliche Änderungen müssten in der Strategiegruppe Mitte September besprochen werden. Der Lehrplan soll auf jeden Fall am 1. August 2021 in Kraft treten. In der Zwischenzeit werden die Lehrpersonen in den neuen Lehrplan eingeführt und bei der Umsetzung begleitet. An einzelnen Schulen werden bereits erste Erfahrungen mit dem neuen Lehrplan gesammelt und ausgewertet.
Flexibilität in der AnstellungIn der Ausbildung von Katechet*innen hat das kompetenzorientierte Lehren schon länger Einzug gehalten. Wer heute den Fachausweis bei der Fachstelle Religionspädagogik erwirbt, kann kirchlichen Religionsunterricht nach dem Verständnis des Lehrplans 21 gestalten. Daniel Ritter hebt weitere Vorzüge der etwa dreieinhalbjährigen Ausbildung hervor: «Sie bietet ein breites Spektrum, vermittelt pädagogisches und methodisch-didaktisches Wissen, führt in die Theologie ein und unterstützt die eigene spirituelle Entwicklung.» Darüber hinaus biete sie einen Zugang zu einer attraktiven Tätigkeit mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Er bedauert, dass im Thurgau viele Pfarreien Katechet*innen nur kleine Pensen bieten, und wünscht sich in dieser Hinsicht eine grössere Flexibilität: «Religionsunterricht liesse sich gut mit einer anderen Aufgabe kombinieren, z. B. in der Erstkommunion- bzw. Firmvorbereitung in der Kinderliturgie, Erwachsenenbildung oder via Zusatzausbildung auch in der Seelsorge von Menschen.»
Detlef Kissner, forumKirche, 4.8.20
Ausbildung Katechet*in
Am 26. August findet ein Infoabend statt, bei dem Interessierte mehr über Art, Umfang und Inhalt der Ausbildung erfahren. Im Herbst dieses Jahres startet ein neuer Ausbildungsgang. Anmeldeschluss ist der 30. September.
Nähere Infos auch auf www.rep.kath-tg.ch.
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