Eine Künstlerin als Vorbotin der Frauenbewegung

Niki de Saint Phalle (1930–2002) ist bei uns bis heute vor allem durch ihre «Nana»-Figuren bekannt. Die Skulpturen drücken Lebenskraft und eine Weiblichkeit frei von Konventionen aus. Die französisch-schweizerische Malerin und international bekannte Bildhauerin befreite sich damit auch von ihrem eigenen Trauma. 

Niki de Saint Phalle kommt 1930 in dem Pariser Nobelvorort Neuilly-sur-Seine als Tochter eines französischen Adeligen und einer amerikanischen Schauspielerin zur Welt. Sie wird als Catherine Marie-Agnès Fal de Saint Phalle getauft, jedoch unter ihrem Spitznamen Niki gerufen. Die Familie siedelt 1933 in die USA über. Von 1936 bis 1945 besucht sie die Klosterschule Sacré-Cœur in New York und gilt als aufsässige Schülerin. Mehrmals muss sie die Lehranstalt wechseln. Einmal, weil sie die Feigenblätter der griechischen Skulpturen auf einem Schulgelände mit roter Farbe bemalt. Ihren Abschluss macht sie 1947 an einer katholischen Mädchenschule in Maryland. Mit elf Jahren wird ihre Welt nachhaltig schwer erschüttert, denn der Vater vergewaltigt und missbraucht sie mehrere Jahre lang. Dieses Trauma trägt Niki de Saint Phalle zeitlebens mit sich herum und lässt sie zu einer labilen jungen Frau heranwachsen. Erst 1994, im Alter von 64 Jahren, schreibt sie öffentlich in ihrem Buch «Mon Secret» darüber.

Vom Model zur Künstlerin
Als 17-Jährige wird sie von einem Model-Agenten auf der Strasse entdeckt und ziert in der Folge die Titelseiten von renommierten französischen und amerikanischen Magazinen wie der Vogue, Elle und Life. Mit 18 Jahren heiratet sie ihren Jugendfreund Harry Mathews und zieht mit ihm nach Cambridge (Massachusetts). Niki de Saint Phalle beginnt in dieser Zeit zu malen und mit unterschiedlichen Materialien zu experimentieren. Das Modeln gibt sie schliesslich auf, um sich mehr auf ihre künstlerische Karriere zu konzentrieren. 1951 kommt die gemeinsame Tochter Laura zur Welt. Die Familie zieht ein Jahr später nach Paris, wo die frischgebackene Mutter Theaterwissenschaften studiert und Schauspielunterricht nimmt. 1953 holen sie jedoch ihre unbewältigten psychischen Probleme ein. Nach einer Reise erleidet Niki de Saint Phalle einen Nervenzusammenbruch und wird mit 22 Jahren in eine psychiatrische Klinik in Nizza eingewiesen. Dort behandelt man sie mit Psychopharmaka sowie Elektroschocks, was ihr Gedächtnisvermögen für immer beeinträchtigt. Von den Psychiatern stark ermutigt, fasst die junge Frau den Entschluss, sich von nun an vollständig der Kunst zu widmen. Darin sieht sie die einzige Chance, ihre düsteren Abgründe zu entdecken und zu überwinden. 

Aktion als Befreiungsschlag
Nach ihrer Genesung zieht die Familie 1954 kurzzeitig nach Mallorca, wo 1955 ihr Sohn Philip geboren wird. Niki de Saint Phalle beginnt die Werke von Antoni Gaudí zu studieren und besucht den von ihm gestalteten Park Güell in Barcelona. Gaudís Werke inspirieren sie später, eigene Skulpturengärten zu entwerfen (u.a. den «Tarot Garten» in der Toskana) und verschiedene Materialien und gefundene Objekte in ihrer Kunst einzusetzen. Noch 1955 geht es wieder zurück nach Paris, wo Niki de Saint Phalle das Schweizer Künstlerpaar Eva Aeppli und Jean Tinguely kennenlernt. Tinguely, der für seine beweglichen, maschinenähnlichen Skulpturen bekannt geworden ist, hilft ihr bei der Umsetzung ihrer ersten Skulptur. Er baut ihr eine eiserne Grundstruktur, die sie dann mit Gips überzieht. Unterstützung erfährt sie auch vom amerikanischen Maler Hugh Weiss, der sie ermutigt, ihrem autodidaktischen Malstil treu zu bleiben. Zunächst arbeitet die zweifache Mutter als Aktionskünstlerin und macht ab 1956 mit ihren Schiessbildern auf sich aufmerksam. Im gleichen Jahr hat sie ihre erste Einzelausstellung in St. Gallen. Dabei feuert sie während der Vernissage auf Gipsreliefs mit eingearbeiteten Farbbeuteln, die sich explosionsartig über den weissen Figuren verteilen. In weiteren Ausstellungen dürfen dann auch die Besucher*innen selbst an die «Farbgewehre». Die ungewöhnlichen Aktionen sind extrem erfolgreich und bescheren ihr den Durchbruch in der Kunstszene. Die Serie «Les Tirs» (Die Schüsse) macht die Künstlerin nicht nur weltweit berühmt, sondern bietet ihr auch ein wichtiges Ventil für ihre inneren Dämonen. 

Kampf gegen soziale Ungerechtigkeit 
1960 trennt sich Niki de Saint Phalle von ihrem Mann, die gemeinsamen Kinder bleiben beim Vater. Fortan lebt und arbeitet sie mit dem mittlerweile ebenfalls geschiedenen Jean Tinguely zusammen, den sie 1971 heiratet. Im Jahr 1965 werden ihre ersten «Nanas» (franz. «die Anmutige») in Paris ausgestellt. Es handelt sich um grossformatige, voluminöse Frauen-Skulpturen, die von einer engen Freundin der Künstlerin inspiriert wurden, welche zu dieser Zeit schwanger war. Die fröhlichen Figuren, die sie aus Stoffresten, Wolle und Draht herstellt, werden anfangs von Künstlerkollegen belächelt und von Kritikern als gefährlich, weil zu feministisch, angesehen. Die nur ein Jahr später in Stockholm verwirklichte «Riesen-Nana» sorgt sogar für einen regelrechten Skandal, da die Besucher*innen durch die Vagina ins Innere der Figur gelangen. Für Niki de Saint Phalle sind ihre «Nanas» eine Ode an die Weiblichkeit, sowohl auf sinnliche wie auch ermächtigende Weise. Mit ihnen kritisiert die Bildhauerin und Malerin das konservative, traditionelle Korsett des Patriarchats. Doch nicht nur in der Kunst engagiert sie sich stark sozial. Auch gegen Rassentrennung, die Diskriminierung von AIDS-Kranken und die Rechtlosigkeit von Frauen tritt sie öffentlich ein. 

Dass sie jahrelang mit verschiedenen Materialien – unter anderem hochgiftigem Polyester – arbeitet, wird ihr schliesslich zum Verhängnis. Die Dämpfe und der Staub zerstören nach und nach ihre Lunge. 2002 stirbt sie im Alter von 71 Jahren in San Diego an Atemnot. Ihre Kunst, die sie gleichzeitig gerettet und getötet hat, kann heute unter anderem im Skulpturengarten in Rorschach bestaunt werden. Ebenso wie im Hauptbahnhof Zürich, wo eine über zwei Tonnen schwere «Nana»-Figur in Form eines Schutzengels über den Reisenden schwebt und diese bewacht. Im Kunsthaus Zürich findet vom 2. September 2022 bis zum 8. Januar 2023 eine Gesamtausstellung ihrer Werke statt.

Sarah Stutte, forumKirche, 27.04.2022
 

Niki de Saint Phalle
Quelle: Wikimedia Commons/Jack de Nijs/Anefo
Niki de Saint Phalle 1967 neben einer ihrer Skulpturen im Stedelijk Museum in Amsterdam.

 

 

 

 

Der Engel im Hauptbahnhof Zürich
Quelle: Wikimedia Commons/art_inthecity
Der Engel im Hauptbahnhof Zürich.

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