Das Märchen-Glasfenster «Hans im Glück» 

Als Geheimtipp gelten die neun Märchen-Glasmalereien von Carl Roesch (1884 – 1979) und drei Schweizer Nationalmythen-Glasbilder von August Schmid (1877 – 1955) in der alten Primarschule in Diessenhofen. Alle Kunstwerke wurden in der Werkstatt «Glasmalerei Diessenhofen» ausgeführt, deren künstlerischer Leiter Carl Roesch war. Aus der beeindruckenden Märchenserie wird im Folgenden «Hans im Glück» unter die Lupe genommen.

Hinter hohen alten Bäumen steht das massive Schulgebäude, das 1910/11 erbaut wurde. Bereits im Entrée werde ich von Carl Roeschs farbigen Vogel- und Blumenmotiven der lichtdurchfluteten Fenster begrüsst. Seine Märchen-Darstellungen entdecke ich im Flurbereich des ersten Obergeschosses. Wie Titelbilder von Kinderbüchern wirken die neun Glasbilder, aufgeteilt auf drei Rundbogenfenster. Die Scheibe mit dem Titel «Märchen erzählen» befindet sich im Zentrum der Roesch-Serie. Sie zeigt eine Frau, die einer Schar Kinder aus einem Buch - wohl Märchen - vorliest. Und wie ist das heute? «Früher gab es eine Vorlese-Kultur», erklärt mir die Schaffhauser Primarlehrerin Christiane Tomasik. «Erwachsene nahmen sich Zeit zum Vorlesen. Die Kinder hatten Geduld beim Zuhören und konnten sich innerlich Bilder machen. Heute muss alles visuell präsentiert werden.»

Ikonografie
In einem neunteiligen Sprossenfenster hat Roesch jeweils ein Märchenbild zentriert und durch Jugendstil-Ornamente und -Linien umspielt. Hans mit Wanderstab strahlt in goldgelber Kleidung und durchschreitet mit einem angebundenen Schwein einen Torbogen. Er lächelt mich an. In den beiden gelben Eckmedaillons sind der Anfang und das Ende der Geschichte zu erkennen: der Wanderer mit Goldklumpen und der Betende vor dem Brunnen. Im unteren roten Feld entdeckt man neben dem Titel die Silhouetten eines Scherenschleifers sowie die Begrüssungsszene des heimkehrenden Sohnes und seiner betagten Mutter.

«Hans im Glück»
Einige Zweitklässler*innen betrachten gerade das Märchenfenster «Hans im Glück». Das Märchen kennen sie nicht. Es handelt sich um einen jungen Mann namens Hans, der nach sieben Jahren Dienstzeit von seinem Herrn einen Goldklumpen als Dank erhält. Glücklich und zufrieden wandert Hans zurück in das Dorf seiner Mutter. Auf der Reise wird sein Gold beschwerlich und er tauscht es gegen ein Pferd, dieses gegen eine Kuh, die wiederum gegen ein Schwein, dieses gegen eine Gans und sie zuletzt gegen Schleifsteine. Zum Schluss verliert er diese in einem Brunnen. Er ist sehr froh, ohne Last zu sein, und dankt Gott dafür. Bei jedem Tausch ist Hans glücklicher und sieht immer die Vorteile im Vergleich zum vorherigen Objekt. Als Kind sah ich in Hans einen Naivling, der von allen über den Tisch gezogen wurde. Der Wert seines Besitzes nahm bis zum Nichts ab. Trotzdem ist er so glücklich und befreit! Warum eigentlich?

Selbsterkenntnis
Gibt es eine Lehre im Märchen? Die sieben Jahre Herrendienst spiegeln sich in sieben Berufs- und Gesellschaftsgruppen sowie der Anzahl der Tauschobjekte inklusiv der leeren Hände von Hans wider. Jetzt erkenne ich die Prinzipien von Hans im Glück: Loslassen von Lasten und eine Veränderung als Chance nehmen - ein Rezept zum Glücklich- und Zufriedensein. Die anderen tragen durch ihre Habgier neue Belastungen. Hans’ wertvollster Besitz besteht aus ihm selbst. Seine Selbsterkenntnis macht ihn glücklich, und er dankt Gott dafür. Das Heimkommen am Ende der Wanderung steht für ein Symbol des Todes. Im Hinblick auf «Ich bin das Wertvollste, was ich habe» empfinde ich «Hans im Glück», die letzte Glasmalerei in Roeschs Folge ganz rechts, als wunderbares Finale seiner Märchenserie.

Judith Keller, 06.07.2022


Kostenloser, öffentlicher Rundgang zu Carl Roeschs Glasfenstern in Diessenhofen, 27. August, 14 Uhr. Nähere Infos: www.diessenhofen.ch unter «Kultur/Gesellschaft» und «Museum kunst und wissen»


«Glasmalerei Diessenhofen»
Das Frühwerk des bedeutenden Schweizer Künstlers Carl Roesch ist stark kunstgewerblich und vom Jugendstil geprägt. Durch seinen Auftrag, Glasfenster für das neue Schulhaus zu gestalten, betrat Carl Roesch 1910 ein neues Metier. Roesch und Schmid haben ihre Werke mit «Glasmalerei Diessenhofen» signiert. Lucia Angela Cavegn, die Kuratorin der Carl und Margrit Roesch-Stiftung, berichtet, dass Roesch eine Werkstatt beim sog. «Toggenburgerhaus» besass, wo er – frischvermählt mit Margrit Tanner - wohnte. «Roesch avancierte früh zum gefragten Glasmaler.» jk
 

 

Das Märchenfenster «Hans im Glück» ganz nah
Quelle: © Vitrocentre Romont (Foto: Hans Fischer)
Das Märchenfenster «Hans im Glück» ganz nah

 

«Hans im Glück»
Quelle: © Vitrocentre Romont (Foto: Hans Fischer)
In der Primarschule Diessenhofen wird man von «Hans im Glück» angelächelt.

 

 

Zweitklässler vor den Märchen-Glasfenstern
Quelle: Judith Keller
Zweitklässler*innen vor den Märchen-Glasfenstern der Primarschule Diessenhofen

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