Ein Fenster für Katholiken in der Diaspora
Die Chorfenster der Schaffhauser Stadtkirche St. Maria sind ihrer Patronin gewidmet. Diese Kirche von 1885 ist der erste katholische Kirchenbau im reformierten Kanton. Was bedeutete das marianische Fensterprogramm damals?
Am Baldachinaltar vorbei gehe ich in den Chorraum zu den drei riesigen Glasfenstern in den Spitzbögen. Es handelt sich um verschiedene Marien-Szenen. Das linke Fenster hat Marias Jugendzeit zum Thema und zeigt ihren Tempelbesuch mit den Eltern vor einem Hohepriester sowie die Verkündigungsszene. Das rechte Fenster steht stellvertretend für die mütterliche Maria, vertreten durch die beiden Schwangeren, Maria und ihre Cousine Elisabeth, der Mutter von Johannes dem Täufer, darunter die für Maria schmerzvolle Kreuzabnahme. Beide Aussenfenster sind in blauen, roten und grünen Farben gehalten und wirken dunkler als das zentrale Fenster.
Himmlische Zuversicht
Das mittlere Glasfenster leuchtet in gelb-goldenen Tönen. Mit dem Hellblau in den Zwischenflächen verkörpern beide Farben eine himmlische Sphäre. Rote Hintergrundflächen heben die untere und obere Szene in einem besonderen Rahmen hervor. Im unteren Bild steht Maria in der Mitte der Apostel und überragt alle. Nach Jesu Auferstehung nimmt sie am Gebet dieser Gemeinschaft teil (Apg 1,14). Die meisten Jünger verharren im Gebet um einen Altar. Unter der Gebetsgruppe lese ich «S. Maria Mater Deo ora pro nobis» (Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns). Die Mutter Jesu, seit 431 als Gottesgebärerin bezeichnet, wird eine besondere Fürbitterin für viele Gläubige. Nur drei Jünger und Maria schauen nach oben zur Schrift «Salve Regina Mater Misericordiae» (Sei gegrüsst, o Königin, Mutter der Barmherzigkeit) sowie zu Marias Aufnahme in den Himmel. Verleiht der Ausblick in den göttlichen Himmel Zuversicht? Zwischen den Szenen entdecke ich abwechselnd je fünf Löwen und Schafe, die wie in der Heraldik auf ihren Hinterbeinen stehen und mit ihren Vorderbeinen die Rahmen halten. Die Schafe erinnern mich an den Schaffhauser Bock als Wappentier. Ist dies Absicht? Vielleicht sollen sich die Betrachter*innen mit frommen Lämmern und starken Löwen identifizieren.
Aufnahme in den Himmel
In der oberen Szene ist die Aufnahme Marias in den Himmel dargestellt, das Heilsgeschehen, dem die Kirche geweiht ist. Maria betet und kniet vor dem thronenden Christus - erkennbar an seinem Kreuznimbus. Während die Mutter Jesu in der unteren Szene mit einem grünen Gewand bekleidet ist, ist sie oben von einem stoffreichen Mantel umhüllt. Hier nun leuchtend himmelblau - Marias Erkennungsfarbe. Sie trägt eine Krone und einen grünen Heiligenschein, beides Attribute einer Heiligen. Christus wendet sich ihr zu, hält in der Rechten ein Zepter und segnet sie mit seiner Linken. Eingerahmt wird dieser Akt von zwei Engeln mit Harfe beziehungsweise Laute. In der Mariologie gilt Maria als «Ersterlöste», die als Erste in den Himmel aufgenommen wird. Es ist eine exklusive Rolle für die Frau, deren der grausame Tod des Sohnes das Herz zerbrach.
Der Künstler
Der Luzerner Kirchen- und Historienmaler Joseph A. Balmer (1828-1918) hat die Gesamtausmalung und die Glasfensterentwürfe von St. Maria von 1884 bis 1891 gestaltet. Die Fenster sind vom Zürcher Handwerksbetrieb Berbig ausgeführt worden. Nach dem Studium in Düsseldorf und Karlsruhe arbeitete Balmer im Atelier des bekannten Kirchenmalers Melchior Paul von Deschwanden in Stans. Die Marienkirche in Schaffhausen bildet den Höhepunkt von Balmers Schaffen.
Meine Zeitreise
Mit den mariologischen Glasfenstern tue ich mich schwer. Ich versuche mich in eine katholische Fabrikarbeiterin hineinzuversetzen, die sich vor 150 Jahren im reformierten Schaffhausen niedergelassen hat: Durch die boomende Industrie braucht es viele zugewanderte Arbeitskräfte, aber wir Katholiken werden verachtet. Sonntags muss ich bis zum Kloster Paradies oder Rheinau in den katholischen Gottesdienst wandern. 1882 bis 1885 bauen wir unsere eigene Kirche: Santa Maria, wie wir sie gerne nennen. Von Weitem kann ich die weisse, neogotische Kirche schon erblicken. Im Inneren umfängt mich eine spirituelle Ruhe, kein Lärm oder Gestank einer Fabrik. Die leuchtenden Glasfenster zeigen mir die vorbildliche Maria als frommes Mädchen und Mutter. Durch sie erhalte ich Trost in meinem schweren Alltag. Die Szene der Maria mit den Jüngern ist für mich wie die Gründung unserer Kirche, wo ich als Nachfolgerin Christi den Glauben lebe. Es gibt mir Hoffnung, dass ich nach meinem Tod wie Maria von Jesus ins Himmelreich aufgenommen werde.
Judith Keller, 14.09.2022
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