Bedürftige Kinder sollen in der Familie betreut werden
Der Horner Thomas Engeli leistet immer wieder Pionierarbeit. Aktuell läuft die Pilotphase für ein technisches Überwachungssystem. Dieses ermöglicht den Eltern eines schwerbehinderten Kind, dieses im Kreise der Familie zu betreuen.
Normalerweise beginnt ein Interview mit einer Frage. Doch Thomas Engeli nimmt die Dinge gerne selbst in die Hand und legt ungefragt mit einer druckreifen Aussage los:
Meine Frau ist Katechetin und wir als Katholiken haben gewusst, dass es früher Gemeindeschwestern gab, die nach Hause kamen, um zu helfen. Heute gibt es auch etwas in dieser Art - das ist die Spitex. Diese kümmert sich vor allem um die Altenpflege. Wir mussten feststellen: Für Säuglinge mit einer seltenen Krankheit gibt es nichts. Deshalb habe ich vor 25 Jahren die Kinderspitex gegründet.
Langsam, langsam! Lassen Sie uns vorne beginnen. Wie kamen Sie als umtriebiger Unternehmer zur Gründung der Kinderspitex?
Das ist relativ einfach. Wir waren eine gutbürgerliche Familie mit drei Kindern, welche zwei, vier und sechs Jahre alt waren. Dann kam der Jüngste zur Welt. Als meine Frau unseren Sohn Silvan zum ersten Mal an die Brust nahm, sagte sie, dass mit diesem Kind etwas nicht stimme. Leider hat sich herausgestellt, dass Silvan seine Muskeln nicht bewegen kann, also bettlägerig ist. Er lag zwei Jahre im Spital und man hat alles versucht, musste aber feststellen: Es gibt keine Heilung. Also wollten wir das Kind nach Hause nehmen.
Wie war diese Zeit für Sie?
Meine Frau war nach zwei Jahren völlig erschöpft. War sie zu Hause bei den drei anderen Kindern, fühlte sie sich als Rabenmutter, weil sie nicht beim Kleinen im Spital war. War sie da, dachte sie dasselbe, weil sie die drei anderen allein liess. Sie konnte machen, was sie wollte, gefühlsmässig machte sie keinen Job richtig, obschon sie 200 Prozent gab. Als Silvan zu Hause war und die Spitex kommen sollte, hat diese abgesagt, als sie unseren Sohn sah. Da hatte meine Frau einen Nervenzusammenbruch. Unterstützung bekam sie nur von einer Kinderkrankenschwester aus unserem Umfeld. Das war die erste Hilfe, die uns etwas brachte. Da habe ich gemerkt, dass ich etwas tun muss. Ich bin ein schlechter Pfleger, aber ein umtriebiger Unternehmer.
Da kam Ihnen die Idee, einen eigenen Pflegedienst zu organisieren?
Ich wusste, jetzt muss ich eine Spitex machen mit Leuten, die speziell für Kinder und Säuglinge ausgebildet sind. So kann ich meiner Frau helfen. Schon bald zeigte sich, dass wir mit unseren Bedürfnissen und der Situation nicht allein dastanden. Für mich war klar: Wer A sagt, muss auch B sagen. Das ist mein Charakter. In den vergangenen 22 Jahren haben wir über 3’000 Familien in der Ostschweiz begleitet. Wir wissen, was es bedeutet, wenn die Familie zusammenbleiben kann.
Ihr Sohn Silvan ist vor vier Jahren gestorben. Weshalb sind Sie weiter so engagiert?
Wenn du siehst, was du machst, was für einen Gegenwert das Ganze hat und die Leute froh sind, dass es Hilfe gibt, dann kann man das nicht einfach zur Seite legen. Wenn du siehst, wie eine IV-Stelle oder Krankenkasse alles machen, um nicht bezahlen zu müssen, dann siehst du, wie überfordert die Leute sind mit ihrem Problem. Denen muss man helfen.
Womit wir beim Geld wären. Lohnt sich das Ganze finanziell?
Die Kinderspitex ist ganz klar eine Non-Profit-Organisation. Hätten wir Gewinn, würde der wieder in soziale Projekte fliessen. Wir machen das nicht, um Geld zu verdienen.
Eine solche Investition ist die Entwicklung in ein Überwachungssystem. Was hat es damit auf sich?
Stellen Sie sich vor, Sie haben ein behindertes Kind zu Hause, das nur auf dem Rücken liegen kann. Muss es erbrechen, besteht die Gefahr des Erstickens. Die Eltern müssen immer mit einem Ohr zuhören, ob etwas passiert. Das macht einen fertig. Ich habe mir gesagt, in der heutigen, digitalen Zeit müsste es eine Möglichkeit geben, ein Kind zu überwachen, ohne die ganze Nacht halbwach im Bett zu liegen. So wurde die Idee vor zehn Jahren geboren und kontinuierlich bis zum heutigen Stand entwickelt.
Was kann Ihr System der Fernüberwachung?
Ziel war, eine nachhaltige Lösung zu entwickeln. Das erreichen wir, wenn wir neben der emotionalen Geschichte in der Familie die Patientensicherheit erhöhen und das Gesundheitswesen finanziell entlasten. Aus diesem Gedankengut ist die Fernüberwachung entstanden. Wir machen ja nicht nur ein Babysitting oder eine Überwachung, ob jemand erbrechen muss, sondern die Arbeit, die sonst auf einer Intensivstation im Spital erbracht wird.
Sie sprechen von Entlastung für das Gesundheitswesen. Wie meinen Sie das?
Ein Platz auf der Intensivstation kostet pro Tag 3’600 Franken, unsere Zentrale 2’000. Es ist demnach schon bei einer einzelnen Person günstiger, und wir können zehn Personen von einem Standort aus überwachen.
Dafür ist im Spital im Extremfall Fachpersonal vor Ort.
Das ist nicht immer nötig. Die Fernüberwachung arbeitet in Echtzeit. Die Daten werden permanent aufgezeichnet und in der Zentrale sieht eine Fachperson, wenn ein Problem besteht. Sie kann Angehörige ans Bett des Patienten beordern und sie begleiten. Die Verantwortung liegt dann nicht bei den Eltern, sondern in der Zentrale. Das bringt unheimliche Vorteile. Vor allem kann man beruhigt schlafen und muss nicht immer wach sein. Zudem bekommt man im Ernstfall konkrete Anweisungen. Unter Umständen wird einem die Entscheidung abgenommen, ob es nötig ist, den Rettungsdienst zu alarmieren. Daraus ergeben sich weniger unnötige Eintritte ins Spital. Dazu gibt es einen weiteren Vorteil bei einem Notfall: Alle Daten, die der Arzt um die Krankheitsgeschichte benötigt, sind bereits vorhanden. Man darf nicht vergessen, in der Zentrale arbeiten keine Laien, sondern Fachleute mit viel Erfahrung in der Intensivpflege.
Welches Potenzial hat Ihr System? Könnte es über die Kinderbetreuung hinausgehen?
Wir haben jetzt mit den Kindern angefangen und überwachen aktuell sieben aus der Ferne in einem Pilotprojekt, welches wir in diesem Herbst abschliessen werden. Ziel muss es sein, nicht nur Kinder und Säuglinge zu überwachen. Es gibt viel mehr Erwachsene, die zu Hause sind oder aus dem Spital nach Hause könnten, deren Angehörige dann allein aber überfordert wären. Insbesondere ältere Menschen könnten länger in ihrem vertrauten Umfeld bleiben, bevor sie in ein Heim müssten.
So gesehen hätte Ihre Entwicklung ein riesiges wirtschaftliches Entwicklungspotenzial!
Klar war beim Beginn des Monitorings vor zehn Jahren, dass kein Mensch und keine Versicherung für die Entwicklung bezahlen würde. Wir haben sehr viel Geld investiert und waren – und sind es noch immer – auf Spenden angewiesen. Wenn alles funktioniert, ist es eine Frage der Zeit, bis sich die Industrie dafür interessiert. Natürlich will man als Unternehmer Investitionen refinanzieren. Geld war bei diesem Projekt aber nie die Triebfeder.
Interview: Ralph Weibel, forumKirche, 4.9.24
Patient im eigenen Bett
Als Gründungsmitglied der Kinderspitex Ostschweiz leistete Thomas Engeli bereits Pionierarbeit. Aus eigener Betroffenheit entwickelte er ein Überwachungssystem. Dank diesem können Betreuungsbedürftige zuhause versorgt werden, ohne dass beispielsweise Eltern rund um die Uhr die Überwachung übernehmen müssen. Gestartet wurde das Projekt vor zehn Jahren. In diesem Herbst läuft ein Pilotprojekt aus - mit vielversprechenden Ergebnissen.
Erste Erfahrungen mit Monitoring konnte die Kinderspitex Ostschweiz mit dem Thurgauer Kantonsspital in Münsterlingen vor bald zehn Jahren sammeln. Die Erkenntnisse waren ermutigend und brachten die erhofften Ergebnisse. Die Kinder konnten früher aus dem Spital entlassen werden und die Eltern litten weniger unter Stress - bei gleichzeitig hoher Patientensicherheit. In vielen kleinen Schritten wurde das System weiterentwickelt. Heute reicht es, einen Patienten mit einem Finger anzuschliessen, um seine Vitalfunktionen zu überwachen. Diese werden in Echtzeit an die Zentrale übermittelt. Dazu gehört eine Bild- und Tonüberwachung. «Diese kann im Patientenzimmer ausgeschaltet werden», betont Engeli.
In der Zentrale überwachen diplomierte Pflegefachpersonen mehrere Patienten. Mit Hilfe von künstlicher Intelligenz (KI) und dem jeweiligen Krankheitsbild wird der Zustand in drei Stufen unterteilt:
Grün: Es braucht keine Intervention, die Patientenwerte entsprechen dem Krankheitsbild.
Orange: Die Werte schwanken, die Situation muss genauer beobachtet werden. Wenn nötig werden die Eltern geweckt.
Rot: Eine medizinische Intervention wird wahrscheinlich. Die Angehörigen werden geweckt, instruiert und begleitet. Wenn nötig wird das Notfallteam alarmiert. Diesem stehen sofort alle wichtigen medizinischen Daten zur Verfügung.
In einer ersten Phase ist das Monitoring als Hilfsmittel für die Betreuung von schwerbehinderten Kindern entwickelt worden. Zukünftig könnte es auch in der Betreuung von älteren Personen angewendet werden.
Die Kinderspitex ist als Non-Profit-Organisation auf Spenden angewiesen.
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