Ein Blick auf die Theologie der Befreiung
Sie waren vor 50 Jahren für viele Held*innen: Dom Helder Camara, Ernesto Cardenal, Dorothee Sölle, Vertreter*innen der Befreiungstheologie. Und heute?
Wie kann man als Christ*in inmitten von Armut und Ungerechtigkeit leben? Aus dieser Frage entstand in den 60er- und 70er-Jahren die Theologie der Befreiung. Damals kamen in vielen lateinamerikanischen Ländern Militärdiktaturen an die Macht, welche die Mehrheit des Volks ausbeuteten. Menschenrechtsorganisationen zählen als Folge etwa 50’000 Morde, 350’000 «Verschwundene» und 400’000 politische Gefangene. Forderungen nach Reformen wurden niedergeknüppelt. Ab 1965 kam es daher zu politischen Umstürzen.
Immer mehr Christ*innen und Kirchenvertreter*innen wandten sich gegen Unterdrückung, Folter und Elend. Sie fragten nach den Ursachen der Armut. Ein Teil der Kirchen-Hierarchie stand aber auf Seiten der Machthaber, wenn diese sich ein antikommunistisches und christliches Mäntelchen umhängten.
Ursprünge
1968 prangerten die Bischöfe an der zweiten allgemeinen lateinamerikanischen Bischofskonferenz in Medellín (Kolumbien) die soziale Ungerechtigkeit an: Gott steht auf Seiten der Armen; dort müsse auch die Kirche stehen. Kapitalismus und Marxismus wurden verurteilt, man suchte einen «Dritten Weg» zur Befreiung. Im Beisein von Papst Paul Vl. bestimmten die Bischöfe «die Option für die Armen» zur kirchlichen Leitlinie.
Neben Theologen wie Gustavo Gutierrez, Hugo Assman oder Leonardo Boff hatte die Bewegung viele Eltern: Die Erfahrung der Not durch ungerechte Systeme und das Zweite Vatikanum. Vor Ort entstanden kleine Gemeinschaften von Laien. Sie trafen sich regelmässig und sprachen über ihren Glauben, die Bibel und ihren Alltag. Aus dieser Basisbewegung wuchs in manchen Ländern eine politische Kraft, die sich mit Gewerkschaften und linken politischen Parteien zusammenschloss.
In Misskredit geraten
In den 1960er-Jahren wurde der Befreiungstheologie von aussen unterstellt, sie stelle die (marxistische) Ideologie vor den Glauben. So wird Helder Camara die Aussage zugeschrieben: «Wenn ich den Armen zu essen gebe, nennen sie mich einen Heiligen. Aber wenn ich frage, warum die Armen nichts zu essen haben, schimpfen sie mich einen Kommunisten». Trotz grosser bischöflicher Unterstützung wurde die Theologie verunglimpft. Die Glaubenskongregation des Vatikans veröffentlichte 1984 und 1986 zwei Instruktionen gegen sie, ab Mitte der 80er-Jahre wurde vielen Befreiungstheolog*innen die Lehrerlaubnis entzogen, Leonardo Boff zu einem «Bussschweigen» verdonnert. In vielen lateinamerikanischen Militärdiktaturen war bis in die 80er-Jahre dazu die Verfolgungen Andersdenkender alltäglich. In der Folge wurden Christ*innen, Priester und einige Bischöfe ermordet, wie Bischof Oscar Romero 1980.
Weiterentwicklung
Am Ende der Militärdiktaturen kam es zu Veränderungen in der Theologie der Befreiung: Frauen, indigene Völker und afroamerikanische Theolog*innen bemängelten das Fehlen ihrer Unterdrückungssituationen in den Analysen. Dazu kamen die Bedeutung des religiösen Pluralismus für Armut und Ungerechtigkeit, der Migration sowie ökologische und «queere» Theologien.
In den 80er-Jahren fand die Theologie der Befreiung auch in den deutschsprachigen Ländern ein grosses Echo. Nach dem Fall der Mauer wurde es aber still um diese «sozialistische» Theologie. Nur wenige arbeiteten daran weiter. Seit 1985 tauschen sich Vertreter*innen der Theologie der Befreiung auf den Südkontinenten in der Ökumenischen Vereinigung der Drittwelt-Theolog*innen aus.
Heiligsprechung Romeros
Die Befreiungstheologie stiess viele soziale Initiativen in Lateinamerika, Südafrika und Südasien an, dazu kamen auch Unterstützungsnetzwerke im Westen. So wurde das Thema der «einen Welt» wichtig, das sich in der Ökumene in den Bereichen Bewahrung der Schöpfung, soziale Gerechtigkeit, Menschenrechte, Arbeits- und Gewerkschaftsrechte sowie Frauen- und Kinderschutz wiederfindet.
Papst Franziskus aus Argentinien ist ein Vertreter der «Theologie des Volkes». Diese sieht die Kraftquelle, den Alltag im Elend zu bestehen, im Glauben, der Kultur und der Volksfrömmigkeit. Der Papst zeigt mit seinem Lebensstil und seinen Aussagen, dass die Option für die Armen in der Kirche unabdingbar ist. Wie nah er der Befreiungstheologie steht, zeigte sich bei der Heiligsprechung von Oscar Romero 2018. Er trug den blutbefleckten liturgischen Gürtel Romeros und darüber ein Messgewand Pauls VI. Auf einem Plakat lateinamerikanischer Pilger*innen stand: «Einen Propheten kann man töten, die Stimme der Gerechtigkeit nicht».
Christiane Faschon, forumKirche, 27.7.21
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