Leer stehende Kirchen und eine angemessene Nutzung
Die Mitgliederzahlen der beiden grossen Konfessionen in der Schweiz nehmen schon seit Jahrzehnten ab. Infolgedessen werden auch immer weniger Kirchen für Gottesdienste benötigt. Was soll mit leer stehenden Kirchen passieren? Wie lassen sie sich sinnvoll nutzen? forumKirche sprach mit der Denkmalpflegerin Dr. Eva Schäfer, die in ihrer Promotion die Umnutzung von Kirchen in der ehemaligen DDR und in den Niederlanden nach 1960 untersucht hat.
Kirchen werden nicht erst seit dem Schwund an Kirchenmitgliedern umgenutzt. Das gab es auch früher schon.
Ja, in der Literatur wird immer wieder beschrieben, dass es auch zur Reformationszeit oder in der Phase der Säkularisierung im frühen 19. Jahrhundert Kirchenumnutzungen gab. Aber man kann aus wissenschaftlicher Sicht diese historischen Beispiele nicht eins zu eins mit der Situation heute vergleichen. Damals waren ganz andere Motive, andere politische und soziale Rahmenbedingungen im Raum. Man kann jedoch aus historischer Perspektive grundsätzlich konstatieren, dass es Umnutzungen von Gebäuden immer gegeben hat und dass dies aus denkmalpflegerischer Sicht nicht grundsätzlich problematisch ist.
In der Schweiz werden in den nächsten Jahrzehnten mehrere Hundert Kirchen nicht mehr für Gottesdienste gebraucht. Was kann man grundsätzlich mit diesen Gebäuden anfangen?
Es gibt die Möglichkeit einer erweiterten Kirchennutzung, bei der auch andere Gemeindeaktivitäten in der Kirche ihren Platz finden, einer Umwidmung, wenn eine andere Konfession die Kirche übernimmt, oder einer Umnutzung zu einem kulturellen oder profanen Zweck.
In der Schweiz wird es vermutlich eine bunte Palette anderer Nutzungen geben. Wir werden aufgrund der gesellschaftlichen Entwicklungen nicht um Profanierungen von Kirchen herumkommen. Es werden auch Kirchen leer bleiben. Es sieht auch nicht nach einer Trendwende aus. Ich habe mich intensiv mit Beispielen aus den 1960er- bis 1990er-Jahren beschäftigt. Der Trend, der in meinem Untersuchungsgebiet zu beobachten war, ist in der Schweiz oder in Süddeutschland noch nicht in derselben Intensität angekommen.
Aus welchen Perspektiven kann eine veränderte Nutzung einer Kirche betrachtet werden?
Neben der kirchlichen Perspektive gibt es viele andere: zum Beispiel die der Menschen vor Ort, die der örtlichen oder regionalen Raumplanung, die kirchengeschichtliche oder die denkmalpflegerische.
Mir ist es wichtig, dass eine anstehende Kirchenumnutzung interdisziplinär angegangen wird und nicht nur aus kirchlicher oder denkmalpflegerischer Perspektive. Oft scheitert ein Projekt daran, dass die Bevölkerung oder eine übergeordnete Behörde nicht einbezogen war oder aus fachlicher Perspektive nicht zustimmen kann. Man muss versuchen, die wichtigsten Player mit ins Boot zu holen. Das ist kein leichtes Unterfangen.
Noch komplexer wird es, wenn es sich um eine Kirche mit einem hohen kirchlichen oder kulturhistorischen Status handelt. Je hochkarätiger ein Objekt ist, desto grösser sollte auch die Sorgfalt sein, die man bei der Herangehensweise an eine Umnutzung an den Tag legen sollte.
Das stellt hohe Anforderungen an eine Kirchgemeinde.
Eine Kirchgemeinde allein kann diese Aufgabe gar nicht stemmen. Viele probieren es, scheitern aber daran und sind enttäuscht, dass viel gute Ideen verpuffen und jahrelang nichts passiert. In einer Kirchgemeinde hatte sich zum Beispiel eine Kommission fünf Jahre lang Hunderte von Stunden Gedanken zur Umnutzung ihrer Kirche gemacht. Ihr Plan wurde dann in der Abstimmung zum Probebetrieb abgelehnt. Alle Beteiligten waren enttäuscht. Es braucht wirklich einen grösseren Prozess, auch wenn man sich davor scheut.
Sollte dieser professionell geleitet sein?
In irgendeiner Form schon. Letztlich gibt es aber kein Patentrezept. Man muss flexibel genug sein, um das Konzept auf die lokalen Gegebenheiten oder Bedürfnisse anzupassen. Und wenn man merkt, dass sich eine Gruppe nicht abgeholt fühlt, muss man bewusst auf sie zugehen.
Wie sollten Kirchenleitungen mit leer stehenden Kirchen umgehen?
Sie sollten nicht – wie es zum Beispiel in einem deutschen Bistum geschehen ist – einfach ankündigen, dass man viele Kirchengebäude aufgeben muss. Es ist nicht von Vorteil, wenn eine übergeordnete Behörde ohne Einbezug der betroffenen Kirchgemeinde Entscheidungen trifft. Gleiches gilt für Ordensleitungen im Blick auf die Ordensgemeinschaften. Gleichzeitig braucht es aber auch übergeordnete Konzepte.
Was beinhaltet ein solcher Findungsprozess konkret?
Am Anfang gilt es zu analysieren, welche konkrete Art von Nutzung es in einem Stadtgebiet oder Dorf dauerhaft braucht und für welche Form von Nutzung sich das jeweilige Kirchengebäude eignet. Für diesen Prozess sind Menschen einzubeziehen, die an eine solche Idee glauben und diese langfristig mittragen. Ohne dass sich jemand lokal engagiert, kommt keine Umnutzung und keine Erhaltung zustande. Solche Prozesse können zwischen 5 und 15 Jahren dauern, bis eine passende Nutzung oder die Finanzierung für ein solches Projekt gefunden wird.
Was ist unter einer denkmalgerechten Umnutzung zu verstehen?
Oft versteht man darunter einen möglichst rücksichtsvollen Umbau. Man muss aber gerade bei Kirchenbauten immer mitbedenken, was mit der Wirkung des Gebäudes passiert, wenn man es umnutzt, und was für eine Botschaft man damit nach aussen trägt.
Kirchen bleiben immer Kirchen. Das konnte ich bei den Untersuchungen holländischer Kirchen feststellen. Wenn in eine Kirche aus Sicht der Bevölkerung eine problematische Nutzung einzieht – zum Beispiel eine Diskothek –, kann das über Jahre auf die Kirchgemeinde zurückfallen, obwohl sie das Gebäude verkauft hat und es keinerlei Beziehung mehr zwischen dem Gebäude und der Kirche als Organisation gibt. Das bringt die Kirchgemeinde in sehr hohe Verantwortung gegenüber der Öffentlichkeit.
In der katholischen Tradition haben Kirchen eine besondere Bedeutung.
Ja, sie sind geweihte Orte. Sie müssen entweiht werden, wenn sie eine profane Nutzung erhalten. Nach reformiertem Verständnis besitzt ein Kirchengebäude erst dann einen sakralen Charakter, wenn darin Gottesdienst gefeiert wird. Aber diese Lesart hat sich nicht zuletzt aufgrund der Auseinandersetzung mit Umnutzungen etwas verschoben. In Wegleitungen wird zwischenzeitlich auf die eingeschriebene liturgisch-gesellschaftliche Erinnerung von Kirchen hingewiesen, in der man einen Wert sieht, den man nicht leichtfertig missachten sollte. Damit liegen die Inhalte katholischer und reformierter Wegleitungen zur Kirchenumnutzung trotz eines unterschiedlichen Kirchenbauverständnisses gar nicht so weit auseinander.
Welche Vorgaben machen die Schweizer Bischöfe zu Kirchenumnutzungen?
In den Empfehlungen der Schweizer Bischofskonferenz ist von einer würdigen Nutzung die Rede, die nach einer Profanierung gesucht werden soll. Was das bedeutet, muss von Fall zu Fall interpretiert werden.
Auch Menschen ohne religiöse Bindung setzen sich zum Teil für den Erhalt von Kirchen ein.
Ja, es gibt viele Menschen, die keiner Kirche mehr angehören, aber Kirchen trotzdem als besondere Orte der Einkehr, Selbstreflexion oder Meditation nutzen. Andere schätzen die Baukultur der Kirchen sehr hoch ein, auch wenn sie keinen Bezug mehr zu einer Konfession haben. Auch aus diesen Gründen können sich Menschen für eine würdige Nutzung von Kirchen stark machen. Es gibt auch kleine Ortschaften, in denen die Kirche der einzige Raum ist, in dem sich die Dorfgemeinschaft noch treffen kann. Dort finden sich Gruppen aus unterschiedlichen Motiven heraus zusammen – von Intellektuellen bis Handwerkern –, die sich redlich um das Kirchengebäude kümmern.
Kirchenumnutzungen sind meistens mit baulichen Eingriffen verbunden. Ist das Konzept mit den wenigsten Veränderungen das beste?
Der minimale Eingriff ist sicherlich das, was man sich als Denkmalpflegerin wünscht. Viele Kirchen sind Baudenkmäler, weil sie immer als Vorzeigebauten mit allen zeittypischen Möglichkeiten der Gestaltung und Konstruktion erstellt wurden. Aber ein minimales Eingriffskonzept allein reicht nicht, wenn die gemeinschaftliche Nutzung nicht funktioniert. Man muss sich im Blick auf die Nachhaltigkeit der Nutzung bzw. die Erhaltung dieser Bauwerke überlegen, was es am jeweiligen Ort braucht.
Kann auch ein Abbruch einer Kirche sinnvoll sein?
Man wird in Zukunft nicht darum herumkommen, kirchliche Gebäude abzubrechen. Aber man muss sich vorher über deren Bedeutung für verschiedene Interessengruppen im Klaren sein. Das muss in die Abwägung einfliessen. Ebenso spielen Überlegungen zur Nachhaltigkeit verbauter Substanz eine Rolle.
Die Verantwortlichen sollten auch nicht gleich zu Beginn den Gedanken des Abbruchs ins Spiel bringen oder versuchen, die Verantwortung für ihre Kirche über dieses Druckmittel an andere Institutionen abzuschieben. Das ist für einen kommunikativen Prozess ungeschickt. Die Kirchen tun gut daran, sich auch mit unangenehmen Themen zu beschäftigen und diese in aller Offenheit zu diskutieren, wenn sie glaubwürdig sein wollen.
Es geht darum, Verantwortung zu übernehmen.
Ja, genau: Erbe verpflichtet!
In der Schweiz wurden schon einige erweiterte Kirchennutzungen umgesetzt. Welche halten Sie für besonders gelungen?
(lacht) Das ist gar nicht einfach. Die ideale Kirchenumnutzung, die alle Faktoren gleichermassen berücksichtigt, gibt es nicht – oder nur in ganz besonderen Fällen. Es ist illusorisch, dass man auf allen Ebenen das Optimum erreicht. Denn dadurch, dass man unter den verschiedenen Anspruchsgruppen eine Lösung aushandeln muss, wird man immer auch Kompromisse machen müssen. Diese sollten aber möglichst klein sein, damit nicht alle verlieren, sondern dass eine gute nachhaltige Nutzung am Ort möglich ist, die hoffentlich langfristig von vielen mitgetragen wird.
Interview: Detlef Kissner, 26.6.24
Die Empfehlungen der Schweizer Bischofskonferenz zur Kirchenumnutzung von 2006
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