Die Oase des Friedens inmitten des Konfliktes

Anlässlich der Woche der Religionen im Thurgau stellt Gabriel Oser das Friedensdorf Neve Shalom/Wahat al-Salam vor. Sowohl der hebräische wie der arabische Name bedeutet Oase des Friedens. Im Dorf leben rund 250 jüdische, christliche und muslimische israelische Staatsbürger*innen freiwillig und friedlich miteinander. Oser ist Präsident des Vereins Schweizer Freundinnen und Freunde von Neve Shalom/Wahat al-Salam. forumKirche hat ihn über das Dorf befragt.

Wie kam es zur Gründung dieses Dorfes?
Bruno Hussar (1911–1996) hatte als Dominikanerpater eine Vision: Ein friedliches Zusammenleben von Arabern und Juden müsste in Israel möglich sein. Von sich selbst sagte er: «Ich bin katholischer Priester, Jude, israelischer Staatsbürger, in Ägypten geboren, wo ich 18 Jahre lang gelebt habe. Ich spüre in mir vier verschiedene Identitäten. Wenn ich mich auch nicht als Ägypter fühle, so stehe ich den Arabern, die ich kenne und liebe, doch sehr nahe.» 
Es war ein Glücksfall, dass Hussar Land vom Trappistenkloster Latrun pachten und später erwerben konnte. Das ist einmalig in Israel, der Staat erlaubt keine Landtransaktionen für derartige Projekte. Das Kloster hatte einen Spezialstatus, weshalb dies möglich war. 

Wie muss man sich das Zusammenleben vorstellen? 
Es gibt zwei autonome Verwaltungen: die eine betrifft das Dorf, also die politische Gemeinde. Die andere die friedenspädagogischen Institutionen wie den Kindergarten, die Schule, das Nadi (ein Programm für Jugendliche), die Friedensschule und das pluralistische spirituelle Zentrum. Das politische Dorf führt Wahlen durch und Gemeindeversammlungen. Alle Bewohner*innen haben dieselben Rechte und Pflichten. Es wird darauf geschaut, dass die Rechte und Pflichten paritätisch unter der jüdischen und der arabischen Bevölkerung aufgeteilt sind. 
Die pädagogischen Institutionen stehen unter eigener Verwaltung. Wir vom Verein sammeln Geld nur für Projekte der pädagogischen Institutionen. Die Einwohnergemeinde muss und kann sich selbst finanzieren. 

Was ist unter kooperativem Unterricht zu verstehen? 
Nachdem die jungen Menschen, die ins Dorf kamen, Familien gegründet hatten, beschloss die Gemeinschaft, die Kinder auf Basis eines binationalen und trireligiösen Modells selbst zu unterrichten. So kam es zur Gründung des Kindergartens und der Schule. Mit der Zeit kamen auch Kinder aus der Umgebung dazu. Mittlerweile machen diese etwa 90 Prozent aus. Im Jahr 2022 waren es genau 256 Kinder aus 19 Gemeinden. Bei der Zusammenstellung der Klassen wird darauf geachtet, dass sich jüdische und arabische Kinder in etwa die Waage halten. 
Es ist ein aufwendiges Modell, denn es braucht oft zwei Lehrpersonen für eine Klasse. Jüdische und arabische Kinder sitzen im selben Klassenzimmer und werden von einer Lehrperson ihrer Muttersprache unterrichtet. Gleichzeitig lernen sie die jeweils andere Sprache. Ein weiterer pädagogischer Aspekt ist die konfessionelle Unterteilung der Araber in Christen und Moslems. Als Grundprinzip gilt, die eigene Identität zu wahren und jene des anderen zu respektieren.

Die Schule gibt es nur bis zur 6. Klasse. Wohin gehen die Kinder danach?
Sie gehen danach in Staatsschulen ihrer jeweiligen Nationalität und Herkunft. Sie brauchen etwa ein Jahr, bis sie dort angekommen sind. Sie gelten dort oft als Exoten. Das ist nicht einfach für sie. Da sie aber eine solide Basis erhalten haben, hat es bis jetzt bei allen geklappt. 

Sie haben vorhin das Nadi angesprochen. Was genau ist das? 
Das Nadi bietet den Jugendlichen auch nach der sechsten Klasse die Möglichkeit, mit ihren ehemaligen Dorfkolleg*innen in Kontakt zu bleiben und die Beziehungen zu vertiefen. Es ist ein Treffpunkt oder Jugendclub, wo sie sich sinnvoll beschäftigen können. Oft ist der anstehende Militärdienst Thema. Das ist ein Knackpunkt in den Beziehungen: Im Alter von 18 Jahren müssen praktisch alle jüdischen Israelis – mit Ausnahme der Orthodoxen – Militärdienst leisten. Das gilt auch für Frauen. 

Was hat man sich unter der Friedensschule vorzustellen?
Diese Schule entstand aus der Idee heraus, jüdische und arabische Jugendliche ab 16 Jahren aus dem ganzen Land zusammenzubringen. Es gibt tatsächlich Leute, die noch nie ein Wort mit Menschen der anderen Kultur gesprochen haben. Über die Jahre hat man festgestellt, dass nach Abschluss der Friedensschule-Kurse konkrete Schritte zur Umsetzung in die Praxis fehlten. Deshalb hat man angefangen, die Kurse nach Berufsgruppen zusammenzustellen und Projekte zu entwickeln. So haben beispielsweise Städteplaner in Jaffa Strassen wieder zweisprachig angeschrieben oder man hat alte arabische Strassennamen wieder hervorgeholt. Es geht darum, im Berufsalltag den Blick auch für die Bedürfnisse der jeweils anderen Seite zu schärfen – bei den Juristen beispielsweise, auch Aspekte der Scharia miteinzubeziehen. Die Friedensschule bietet zusätzlich Freiwilligenkurse an 20 Universitäten des Landes an. 

Im Dorf gibt es ein pluralistisches spirituelles Zentrum. Wozu dient es?
Über den Weg der Kultur sollen die Völker zusammengebracht werden. Im pluralistischen, spirituellen Zentrum werden Filme gezeigt, gerade auch kritische. Es gibt Musik aus verschiedenen Kulturkreisen und Vorträge. Es ist eine andere Art, Verständnis für die andere Seite zu wecken durch gemeinsames Erleben. Zum Zentrum gehört auch die Doumia Sakina, ein Ort der Stille, des Nachdenkens, Meditierens, des Gebets. Es ist ein Kuppelbau mit wunderbarer Akustik, aber ohne jegliche religiösen Symbole. Es gibt im Dorf keine anderen Gebetshäuser. 

Welche Berufe üben die Dorfbewohner*innen aus? Es können wohl kaum alle im Dorf arbeiten.
Tatsächlich arbeiten die wenigsten im Dorf selbst, sondern gehen auswärts einer Arbeit nach. Es leben auch einige renommierte Wissenschaftler und Musiker in Neve Shalom/Wahat al-Salam. 

Das Ziel ist es, mittels einer zweiten Bauetappe insgesamt 90 Familien im Dorf wohnen zu lassen. Zurzeit sind es rund 60. Woher kommen diese neuen Familien?
Es werden nur Menschen aufgenommen, die wirklich daran interessiert sind, an der Konfliktlösung mitzuarbeiten. Davon gibt es in Israel tatsächlich eine grosse Anzahl. Natürlich möchten auch Kinder der ersten Familiengeneration mit ihren jungen Familien ins Dorf zurückkehren. Um das Risiko zu minimieren, dass sich das Dorf in eine orthodoxe Richtung bewegt und die Ideen von Bruno Hussar konservieren will, statt sich zeitgerecht weiterzuentwickeln, sollen die Neuzuzüger zur Hälfte aus den Kindern der ersten Generation bestehen und zur Hälfte aus Leuten von aussen. Einige Bewohner haben bereits ihr Haus aufgestockt, um davon einen Teil ihren Kindern zu überlassen. 

Das Dorf befindet sich auf dem Weg von Tel Aviv nach Jerusalem. Wie geht es den Dorfbewohner*innen zurzeit? 
Physisch sind sie unversehrt, das Dorf liegt neben den Zielen der Raketen. In diesem Sinne geht es ihnen gut. Allerdings sind die Sicherheitsvorkehrungen erhöht worden, denn auf die Friedensschule, die Verwaltung und die Friedensbibliothek wurden vor drei Jahren Brandanschläge verübt. Deshalb herrscht Alarmstufe 1. Die Gemeinschaft wird mental auf das Aufsuchen der Schutzräume vorbereitet. 
Nach den Terroranschlägen kam die Gemeinde zusammen, um sich auszutauschen. Doch die Menschen merkten, dass sie sich vorab mit den Leuten ihrer eigenen Kultur austauschen und «intern» zu einem Konsens kommen mussten. Darauf trafen sich die jüdischen und arabischen Bewohner erneut, um gemeinsam ihre Positionen zu diskutieren. Das ist die Art, wie sie miteinander umgehen und wie es ihnen gelingt, grössere, gemeindeinterne Konflikte zu vermeiden.

Wie können Sie von der Schweiz aus die Bewohner*innen des Dorfes unterstützen? Gerade in der aktuellen Situation?
Wir können nicht viel machen. Wir sammeln weiterhin Geld, das in die friedenspädagogischen Projekte fliesst. Wir überwachen die Zuteilung der Gelder gemäss den genehmigten Budgets. Zurzeit sind die Schulen geschlossen, doch inzwischen findet wieder Online-Unterricht statt. 
Die pädagogischen Institutionen halten an ihrem eingeschlagenen Weg fest. In einem Statement schreiben sie, ohne die vollen Rechte jedes einzelnen Menschen – ob Palästinenser, Israeli, Jude, Moslem oder Christ – anzuerkennen, sei ein ruhiges und sicheres Leben in Israel nicht möglich. 
Ich habe auf meinen Reisen in die besetzten Gebiete und in die Flüchtlingslager gesehen, auf welch engem Raum die Menschen gerade in solchen Lagern leben müssen. Dort kann die Jugendarbeitslosigkeit bis zu 70 Prozent betragen. Eine langfristige, tragfähige Lösung des Konfliktes in Israel und in den Palästinensergebieten ist nur möglich, wenn auch die Palästinenser wirtschaftlich und gesellschaftlich eingebunden werden. 
Die Friedensschule von Neve Shalom/Wahat al-Salam hat bis jetzt über 80'000 Absolvent*innen ausgebildet. Diese haben ihren Bekanntenkreis, ihren Arbeitsplatz und verbreiten dort ihre Botschaft. Auch die Kinder, die die Schule besucht haben, tragen ihre Erfahrungen nach draussen. Alle diese Menschen wirken als Multiplikatoren. So kann etwas entstehen.


Béatrice Eigenmann, forumKirche, 02.11.2023


Vorträge
•    «Das Friedensdorf Neve Shalom/Wahat al-Salam», Gabriel Oser; 6.11., 19.30 Uhr, Ulrichshaus, Kreuzlingen
•    «Ist der Koran frauenfeindlich?», Imam Rehan; 8.11., 19.30 Uhr, evang. Kirchgemeindehaus, Kreuzlingen


www.wdr-sdr.ch

Schulkinder von Neve Shalom/Wahat al-Salam
Quelle: zVg
90 Prozent der Schulkinder von Neve Shalom/Wahat al-Salam kommen aus umliegenden Gemeinden in die binationale, trireligiöse Schule.

 

 

Doumia Sakina: Ort der Stille und des Gebets mit wunderbarer Akustik
Quelle: zVg
Doumia Sakina: Ort der Stille und des Gebets mit wunderbarer Akustik

 

 

Gabriel Oser
Quelle: zVg
Gabriel Oser

 

Kommentare

+

Neuen Kommentar hinzufügen

Der Inhalt dieses Feldes wird nicht öffentlich zugänglich angezeigt.

Klartext

  • Keine HTML-Tags erlaubt.
  • Zeilenumbrüche und Absätze werden automatisch erzeugt.
  • Website- und E-Mail-Adressen werden automatisch in Links umgewandelt.
CAPTCHA
Diese Sicherheitsfrage überprüft, ob Sie ein menschlicher Besucher sind und verhindert automatisches Spamming.
Bild-CAPTCHA
Geben Sie die Zeichen ein, die im Bild gezeigt werden.