Wie das Neue Testament sich gegen Machtmissbrauch wendet
Die Möglichkeit, Macht auszuüben, lässt selbst Tugendhafte schwach werden. Das scheint nicht erst heute so zu sein. Markus Lau zeigt in seinem Buch «Die Versuchung der Macht» (vgl. S. 14), dass schon in neutestamentlichen Schriften davor gewarnt wird. In einem Interview legt er dar, wie den Verantwortlichen und Aufstrebenden der frühen christlichen Gemeinden der Spiegel vorgehalten wird und was sein Buch in der heutigen Diskussion um Macht bewegen könnte.
Wie kamen Sie auf die Idee, ein Buch über Macht zu schreiben?Dies hat eine doppelte Vorgeschichte. Zum einen ist es erwachsen aus biblischen Miniaturen, die ich im Rahmen meiner Anstellung im Bischofsvikariat des Bistums Lausanne Genf und Freiburg einmal pro Monat veröffentlicht habe. Für diese Serie habe ich machtkritische Texte aus dem Markus- und Matthäusevangelium ausgewählt. Zum anderen begegnet mir die Frage, wie man Macht gestaltet, ständig in meiner Forschung zu biblischen Texten. Sie taucht dort in unterschiedlichen Zusammenhängen auf. In meiner Dissertation geht es beispielsweise darum, wie sich die frühe Jesusbewegung zu Machtinszenierungen des römischen Reiches stellte. Im Grunde muss man sagen: Machtfragen sind zeitlos. Wir diskutieren sie heute ebenso wie in der Antike.
Schon die Jünger Jesu waren versucht, nach Macht zu streben. Das zeigt das Markus-Evangelium deutlich.Ob das die historischen Jünger sind, kann man nicht wirklich sagen. Aber Markus traut sich, auf ihre Kosten seiner Gemeinde zu erzählen, wie man besser nicht mit Macht umgehen soll, wenn man in der Sache Jesu unterwegs ist. Das kommt besonders deutlich in Mk 8-10 zum Ausdruck, auf dem Weg von Galiläa nach Jerusalem, ein expliziter Lernweg für die Schüler*innen Jesu, auf dem vor allem die «grossen» Schüler über Machtfragen stolpern. So fordern die Zebedaiden, Jakobus und Johannes, die besten Plätze nach der Wiederkunft Jesu in Herrlichkeit. Sie wollen rechts und links von ihm thronen, Mitregenten sein. Sie sind durchaus bereit, dafür zu leiden, aber eben mit dieser «Um-zu-Logik»: Ich leiste jetzt etwas, indem ich Jesus nachfolge bis ans Kreuz, dafür will ich aber auch etwas haben. Wenn man das auf heute übertragen wollte, könnte das zum Beispiel heissen: Wir sind bereit zum Martyrium, sind mega-fromm, wir verzichten, leben zölibatär, aber wir möchten dafür etwas haben, ein Mehr gegenüber den anderen, jetzt in den Strukturen der Kirche und später gerne auch.
Wie reagiert Jesus darauf?Er macht sie darauf aufmerksam, dass sie damit ihn und sein Programm gründlich missverstehen. Jesus nachzufolgen, das angebrochene Reich Gottes zu verkündigen, ist nicht dazu da, selber gross herauszukommen, sondern es ist dafür da, dass es allen in gleicher Weise gut geht.
Jesus hält den Zebedaiden und der versammelten Jüngerschar den Spiegel vor (Mk 10,41-45), indem er auf die Machtstrukturen des römischen Reiches zurückgreift und ausführt, dass die, die bei den Völkern zu herrschen scheinen, ihre Macht gegen die Bevölkerung missbrauchen. Und so soll es in der Jesusbewegung nicht sein: Wer unter euch gross sein will, soll euer Diener sein, wer der Erste sein will, soll der Sklave von allen sein. Er nimmt sich selber als Vorbild: Der Menschensohn kam nicht, damit man ihn bedient, sondern um zu dienen und sein Lösegeld für viele zu geben - also nicht für sich selber. Jesus nimmt den Gedanken der Leidensbereitschaft der Zebedaiden auf, biegt ihn aber gleich um. Er gibt sein Leben nicht, um selbst gross zu werden, sondern damit die Vielen es besser haben, dass sie danach befreit leben können, dass sie der Logik «nach unten treten und nach oben buckeln» nicht mehr folgen müssen.
Ja, es ist der Kern seines Nachfolgeethos. Dienen ist bei Markus auf Gegenseitigkeit angelehnt und bedeutet sich beistehen, einander zu dienen. Es ist eine Win-Win-Situation für alle Beteiligten. Dienen kann dabei ganz praktisch z. B. das Teilen von Nahrungsmitteln meinen, die Sorge um Familienangehörige umfassen, die gastfreundschaftliche Öffnung des Privathauses für Gemeindemitglieder bedeuten. Dienen ist für Markus eine Haltung, die lebenspraktisch wird, und allen eine Chance auf ein gutes Leben ermöglicht.
Gibt es zur Zeit der Entstehung des Markusevangeliums (etwa 70 n. Chr.) schon Leitungspersonen in den christlichen Gemeinden?Ja, der Befund in den Paulusbriefen legt nahe, dass es zu dieser Zeit bereits Funktionträger*innen gibt und sich Vorformen von Ämtern entwickeln.
Wie positioniert sich Markus zu diesem Prozess?Er begleitet ihn sehr kritisch. Er stellt Funktionsträgern in seiner Gemeinde die Frage, ob sie ihre Macht wirklich im Sinne Jesu ausüben. Eine Versuchung kann für sie sein, dass sie reglementieren, wer in der Gemeinde etwas tun darf. Dieser Versuchung hält Markus folgende Erzählung entgegen (9,38-40): Die Jünger beschweren sich bei Jesus, dass ein Fremder in Jesu Namen Dämonen austreibt. Sie wollen ihn daran hindern, weil er «uns nicht nachfolgt». Sie meinen, ein Copyright auf das Handeln im Namen Jesu zu haben. Dem widerspricht Jesus. Für ihn zählt allein, dass hier jemand heilsam wirkt. Ob er zur Jesusgruppe gehört, ist zweitrangig. Er kennt vielfältige Formen von Nachfolge, die legitim nebeneinander existieren können. Ein Hinweis für alle, die Leitung wahrnehmen.
Wie versucht Matthäus der Versuchung der Macht vorzubeugen?Der matthäische Jesus stattet Petrus mit der Binde- und Lösegewalt aus und verleiht ihm damit Leitungsautorität. Aber er setzt auch «Leitplanken», wie diese Gewalt zu gestalten ist. Zum einen charakterisiert er, wie man diese Gewalt auszuüben hat und zwar anhand eines negativen Beispiels: In der Wehe-Rede (Mt 23) klagt er über die Schriftgelehrten, die in falscher Weise binden und lösen, indem sie den Menschen Lasten aufbürden und das Tor zum Himmelreich nicht aufschliessen. So soll man es nicht machen, sondern man soll diese Binde- und Lösegewalt lebensförderlich, zugunsten der Menschen einsetzen – dienend würde Markus sagen.
Und wo setzt er die zweite Leitplanke?Er weist die gleiche Binde- und Lösegewalt nicht nur Petrus, sondern auch der Gesamtgemeinde zu (Mt 18,15-18). Die Autorität des Petrus steht nicht für sich allein, sondern ist rückgebunden an die Gesamtgemeinde. Und dazu gehören alle Mitglieder. Die Gemeinde hat damit die gleiche Autorität wie Petrus als Individuum.
Man kann Macht nicht nur in Leitungsfunktionen ausüben, wie der 1. Korintherbrief zeigt …Der 1. Korintherbrief hat eher Gruppen und Gruppenkonflikte innerhalb der Gemeinde im Blick. Einer dieser Konflikte bricht zwischen reichen und ärmeren Gemeindemitglieder beim Herrenmahl, der „Eucharistiefeier“ der Gemeinde, auf. Die Mahlfeier in Korinth bestand wohl aus einem Sättigungsmahl, in das religiös-rituelle Elemente eingebunden sind. Die Reichen verfügen über mehr Freizeit, beginnen das Mahl früher, essen und trinken aus einer unreflektierten Haltung heraus einfach drauflos. Wenn später die Ärmeren dazukommen, feiert die Gemeinde den sakramentalen Teil. Nur ist dann für die später Hinzugekommenen nicht mehr genug vorhanden, um auch physisch satt zu werden.
Und wie reagiert Paulus darauf?Er argumentiert theologisch – ziemlich kompliziert sogar, wenn man ehrlich ist! – und weist mit Nachdruck auf diese Schieflage hin. Das Herrenmahl soll integrieren und Gemeinschaft begründen, nicht soziale Grenzen stabilisieren. Denn Jesus starb «für euch», nicht nur für die Reichen, sondern für die ganze Gemeinde. Zu diesem im Mahl erinnerten Tod Jesu, der Grenzen gesprengt hat, passt das sozial lieblose Verhalten der Reichen nicht. Sie sollen auf die ganze Gemeinde mit dem Beginn des Essens und damit der Herrenmahlfeier warten oder sich daheim bereits den Bauch vollschlagen – letzteres ein Rat, der mitverantwortlich ist, dass man unseren Eucharistiefeiern heute nicht mehr anmerkt, dass sie einst auch als gemeinsames Essen gedacht waren.
Viele in der katholischen Hierarchie behaupten, der Kirche zu dienen. Kann ein Mächtiger überhaupt im Sinne Jesu dienen?Ich glaube schon, dass das geht, weil es auf die Haltung ankommt, mit der man sein Amt ausübt. Das katholische System, das mit dem Monepsikopat (monarchisches Episkopat) lauter mächtige Männer kennt, gibt diesen Männern auch die Möglichkeit, ihre Macht so auszugestalten, dass sie sie rückbinden an Beratungsgremien oder synodale Strukturen. Sie haben selbst die Chance, ihre Macht zu zähmen. Das wäre durchaus in einem jesuanisch markinischen Sinne, indem sie eine Haltung an den Tag legen, die ihrer Verantwortung gerecht wird. Sie müssten Entscheidungen nicht losgelöst von anderen treffen, sondern könnten sie mit anderen beraten, vielleicht auch gemeinsam beschliessen und bereit sein, sie zu begründen. Damit würden sie die Machtanwendung mindestens transparent machen. Das wäre wenigstens jetzt schon machbar, wenn man an den Strukturen nichts ändern möchte.
Liesse sich etwas an den Strukturen ändern?Kirchliche Strukturen stehen immer schon in einem Entwicklungsprozess. Vieles ist im Laufe der Kirchengeschichte möglich gewesen. Leitungsmodelle sind versunken, neue sind entstanden. Schon im Neuen Testament wird von sehr unterschiedlichen Formen von Leitung und Ämtern erzählt, die nebeneinander z. T. auch nacheinander existiert haben. Wir sind Teil eines Prozesses, der nach vorne hin offen ist. Mit meinem Buch verbinde ich auch die Idee, dass in Rückbesinnung auf die Anfänge vielleicht auch Perspektiven für eine Fortentwicklung des Prozesses deutlich werden. Eine weniger machtaffine Kirche wäre durchaus im Sinne des neutestamentlichen Befundes.
Und dafür mehr demokratische Strukturen?Ja, zum Beispiel. Demokratie ist zwar kein Allheilmittel für jedes Problem in der Kirche, aber in westeuropäischen Breiten, wo Demokratie sehr verwurzelt ist, gibt es Teilkirchen, die mit mehr Demokratie besser fahren würden oder in denen grosse Teile der Mitglieder sich das wünschen würden.
In aussereuropäischen Teilkirchen muss das – zum jetzigen Zeitpunkt wenigstens – nicht das Mittel der Wahl sein. Man müsste insgesamt mehr teilkirchliche Autonomie wagen. Einheit ist ein wichtiger Wert innerhalb der Kirche, aber Einheit muss nicht in Uniformität bestehen. Auch das kann man aus den neutestamentlichen Texten und ihrem Umgang mit den Versuchungen der Macht lernen.
Für mich selber gibt es eine Reihe Vorbilder, z. B. drei Priester, die mich sehr geprägt haben und denen ich dieses Buch gewidmet habe. Es sind für mich Träger von Verantwortung, die gut und begrenzt mit Macht umgegangen sind. Es gibt auch Bischöfe in unseren Tagen, die bereit sind zu lernen, mit Macht neu umzugehen, über Macht zu reden und sie nicht einfach heimlich auszuüben. Das sind gute Anfänge.
Erinnern darf man sich auch an Johannes XXIII. Er hat sich getraut, ein Konzil einzuberufen und damit zumindest das Kollegium der Bischöfe nochmals neu zu hören und mit ihnen nachzudenken, wie Kirche im 20. Jahrhundert aussehen könnte. Da sind grossartige Texte herausgekommen. Das hätte er nicht tun müssen. Das war ein guter, ein geisterfüllter Moment.
Interview: Detlef Kissner, forumKirche, 12.1.21
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