Neues Bildungsangebot für psychische Gesundheit
Das Recovery College Ostschweiz (RCO) ist eine neue, innovative Bildungseinrichtung zu Themen des psychosozialen Wohlbefindens. An verschiedenen Standorten werden hierzu diverse Kurse angeboten – so auch in Weinfelden und Kreuzlingen. Ein Gespräch mit Martin Weyer, dem Leiter der Institution.
Seit diesem Sommer leiten Sie das RCO. Aus welcher Intention heraus ist das Angebot entstanden?
Martin Weyer: Seit vielen Jahren bin ich hauptberuflich als Fortbildungsverantwortlicher für die Pflege in der Privatklinik Littenheid tätig. In dieser Funktion habe ich zusammen mit «Peers» ein Pilotprojekt zu psychiatrischen Themen unterrichtet. Das sind Menschen, die selbst seelische Krisen erlebt haben und nach einer Beraterausbildung ihr Wissen reflektiert an andere Betroffene vermitteln können. Das Konzept der aus dem englischsprachigen Raum kommenden Recovery Colleges, die Erfahrungs-Expertise mit der fachlichen Ebene zu verbinden, entsprach den positiven Effekten meines Schulungsprojekts.
Was bieten Sie an und für wen sind die Angebote?
Martin Weyer: Mit unseren vielfältigen Bildungsveranstaltungen zu Themen der psychosozialen Gesundheit möchten wir möglichst breite Kreise ansprechen – neben Betroffenen auch Angehörige, Fachpersonen und Gesundheitsinteressierte aller Art. Wir bieten Seminare und Workshops sowie Bildungsreihen in Form von Intensivseminaren an. Die Kurse behandeln Themen wie Lebenssinn, Resilienz, Empowerment und Antistigma-Arbeit. Daneben gibt es Skills-Seminare zum Überthema Selbst- und Sozialkompetenz. Wir bieten auch Seminare zu Trauer und Verlust an oder zu Stress, Angst und Einsamkeit.
Gibt es nicht schon genügend andere Bildungsangebote für Menschen mit psychischen Erkrankungen?
Martin Weyer: Speziell ist bei uns, dass sämtliche Bildungsformate immer im Tandem von einer Fachperson – Arzt*Ärztin, Pflegefachperson, Therapeut*in – mit einem Peer konzipiert, entwickelt und durchgeführt werden. Dadurch lässt sich besser vermitteln, wie die Krankheiten entstehen und sich anfühlen, wie die Genesung abläuft und was für die Gesundung hilfreich ist. Für das gemischte Publikum ergeben sich daraus wertvolle multiperspektivische Verstehens- und Bewältigungsansätze. Auch die Vorbildwirkung, welche die Peer-Dozenten für die Betroffenen haben, muss hervorgehoben werden. Letztere sehen, dass sie aus einer Depression wirklich herauskommen und auch für andere etwas daraus mitnehmen können. Das ist enorm hoffnungsfördernd und Zuversicht gebend.
Werden die Kurse von den Krankenkassen übernommen oder müssen diese selbst gezahlt werden?
Martin Weyer: Teilweise wird ein Anteil aus Zusatzversicherungen bewilligt. Unsere Preisgestaltung ist kostenwahr, d.h. wir müssen einen bestimmten Betrag bei einer festgelegten Teilnehmerzahl einnehmen, um unsere Betriebskosten decken zu können. Da unsere potenzielle Zielgruppe aber meist nicht aus einem einkommensstarken Segment kommt, bieten wir relativ grosszügig Rabatte an. Dabei lassen wir uns von den Prinzipien der Inklusion und der sozialen Teilhabe leiten.
Am 10. Dezember fand ein Gesprächsseminar zum Thema «Mit Weihnachten und Silvester zurechtkommen» statt. Welchen Belastungen ist eine psychisch kranke Person zu dieser Zeit ausgesetzt?
Martin Weyer: Für viele ist Weihnachten purer emotionaler Stress – die Festtage sind mit Depressionen und Einsamkeit verbunden. Unsere Kursteilnehmer*innen haben zum Teil zerrüttete Familienverhältnisse und keinen Kontakt mehr zu ihren Kindern oder Eltern. Es gibt viele Menschen, die negative und traumatische Erinnerungen und Erlebnisse mit Weihnachten verbinden. Gerade hat sich eine Person für dieses Seminar angemeldet, die schwerste Übergriffe und Gewalt erlebt hat, speziell zu dieser Jahreszeit.
Wie kann das Seminar helfen?
Martin Weyer: Man ist ja nicht nur krank. Jeder Mensch hat auch gesunde Anteile und sehr viel hinbekommen im Leben. Indem wir im Seminar Genesungserfahrungen und Bewältigungsstrategien miteinander teilen, bleiben wir nicht im Kranken haften, sondern bieten Perspektiven. Die Teilnehmer*innen erzählen sich im Austausch, wie sie über die Jahre gelernt haben, diese speziellen Tage zu überstehen. Daraus kann jede*r das eine oder andere für sich ganz konkret mit nach Hause nehmen und umsetzen.
Interview: Sarah Stutte, forumKirche, 15.12.21
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