Gedenken an den standhaften Grossvater

Der 27. Januar ist der offizielle Shoah-Gedenktag, der Gedenktag an den Holocaust, die Massenvernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden. Viele Christ*innen wurden ebenfalls zu Opfern der Shoah. Einer von ihnen war mein Grossvater.

Mein Vater erzählte mir als Kind von etwa acht Jahren, dass mein Grossvater während der Nazizeit die Lebensversicherung der Familie gewesen war: Solange er sich nicht scheiden liess oder starb, wurden seine Frau und seine Kinder nicht deportiert*. Denn mein Grossvater lebte während der Nazizeit nach den Nürnberger Rassegesetzen (1935) als «Arier» in einer sogenannten privilegierten Mischehe. Er hatte mit meiner «nichtarischen» Grossmutter mehrere Kinder. Weil er sie schützte, gibt es mich. Darüber wurde nur nebenbei gesprochen.

Hochachtung
Mein Grossvater war eine ferne, verschwommene Gestalt. Er starb vor meiner Geburt. Auf den wenigen Fotos steht er würdevoll in eleganter Kleidung da, mit Brille. Es hiess mütterlicherseits, er sei ein Intellektueller mit dem Kopf in den Wolken gewesen. So habe er trotz Armut Hitlers «Mein Kampf» gekauft, um zu verstehen, wes Geistes Kind die Nazis waren. Mein Vater aber sprach mit Hochachtung von ihm, lobte seine Belesenheit, seine Reisen in viele Länder und seine Standhaftigkeit, deren Ausmass mir lange unklar blieb.
Das letzte Kind der Familie, ein Bub, starb kurz vor oder während der Geburt, denn meine Grossmutter durfte als «Nichtarierin» nicht ins Spital. Als Studentin erfuhr ich, dass die Gestapo danach meinen Grossvater abholte und ihn zwangssterilisieren liess, damit er keine weiteren «Judenbankerte» mehr in die Welt setzen konnte. Meine Tante erzählte mir ausführlich darüber, mein Vater schwieg. Ich vermute, dass ihm dieses Thema gegenüber der Tochter peinlich war.

Gestapo-Verhör
Der Grossvater verdankte seiner Mehrsprachigkeit auch ein Gestapo-Verhör: Er hörte fremdsprachige Radiosender, und die Nachbarin denunzierte ihn. Sein Freund, ein Parteimitglied, warnte ihn am Tag vor seiner Verhaftung. Er solle behaupten, er habe deutsche Sender in Französisch und Englisch gehört. Der Freund erklärte ihm, was zur fraglichen Zeit dort zu hören war, und mein Grossvater lernte es auswendig. Mein Grossvater wurde drei Tage und Nächte verhört, am Ende entliess man ihn, man konnte ihm nichts nachweisen. Er erkrankte dann an Tuberkulose. Die Gestapo-Haft hatte wohl ihren Anteil daran.

Katholisch
Als Erwachsene wusste ich wenig über meinen Grossvater väterlicherseits: Dass er gross war, wohl etwas steif. Ein Einzelkind, dessen Mutter früh starb. Der Vater war Lokomotivführer, zu jener Zeit etwas Sensationelles. Dass er Konfitürebrot liebte. Dieses habe er auf dem Handteller bestrichen, nicht auf dem Teller. Er war sehr katholisch und verteidigte die Kirche, obwohl diese die Familie in der Nazizeit und danach kaum unterstützte. Er forderte, dass seine noch ungeborenen Enkelkinder unbedingt katholisch getauft werden mussten. Das traf meine reformierte Mutter.
Vielleicht hat ihm aber gerade das Rigorose geholfen, 13 Jahre auszuharren. Warum blieb er standhaft? War es ausschliesslich Liebe – oder eher Verantwortungsgefühl? Die Ehe meiner Grosseltern war schwierig. Oder war er standhaft, weil er Katholik war? Er trug einen Hugenottennamen. Hugenotten hatten eine lange Erfahrung mit der Verfolgung um ihres Glaubens willen. Vielleicht hat diese Tradition mitgeholfen? 

Neue Würdigung
Ich habe meinen Grossvater lange in der Ferne gelassen, obwohl ich wissenschaftlich der Verfolgungsgeschichte der sogenannten «Mischlinge» nachging. Es gibt wenig Forschung zu den sogenannten privilegierten Mischehen. Vor etwa zehn Jahren sprach ich in der Gedenkstätte «jad vaschem» in Jerusalem mit einer Historikerin über die Familie. Sie erklärte mir, man wolle für die standhaften «arischen» Partner*innen – fast ausnahmslos Kirchenmitglieder, die das Leben ihrer Männer, Frauen und Kinder gerettet oder mit gerettet hatten – eine neue Kategorie der Würdigung entwickeln. So kam mir mein Grossvater näher. Doch erst vor Kurzem begriff ich, dass seine Zwangssterilisation zum Euthanasieprogramm, der systematischen Ausrottung von Kranken und Behinderten, der Nazis gehörte.
Ich habe sein Durchhalten lange nicht genügend gewürdigt. Ich trete jetzt dafür ein, dass die Kirchen diesen stillen Heldinnen und Helden, ihren Mitgliedern, als Vorbildern eine Stimme geben und ein Gesicht. «Zichronam livracha» – möge das Gedenken an sie ein Segen werden.

Christiane Faschon, 10.01.2024

* Weitere Verfolgung war legal: massiv eingeschränkter Zugang zu medizinischer Versorgung, höherer Schulbildung, Schutzräumen und zu Lebensmitteln - dazu Enteignung, Attacken, Zwangssterilisierung.

Der Grossvater von Christiane Faschon in jungen Jahren
Quelle: zVg
Der Grossvater von Christiane Faschon in jungen Jahren

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