Die Aufgeklärte Reform des 18. Jahrhunderts
Professor Markus Ries von der Universität Luzern gibt Auskunft zur «Aufgeklärten Reform» in der katholischen Kirche.
Werfen wir zuerst einen Blick zurück auf das 17. Jahrhundert. Was war prägend?Kirchengeschichtlich ist das 17. Jahrhundert geprägt durch die gegenseitige Abgrenzung der Konfessionen. Man setzte die Programme, die man beiderseits im 16. Jahrhundert entwickelt hatte, um. Dabei ging es v. a. um die Disziplinierung des Einzelnen. Vorschriften, wie die Lektürekontrolle – also was man lesen darf, was nicht – oder die Einführung von Tauf- und Zivilstandsregistern gehörten dazu.
Wie sah es gesellschaftlich aus?Die Beaufsichtigung und die Kontrolle der privaten Lebensführung hatten einen hohen Konformitätsdruck zur Folge, der weit über das Religiöse hinausging. Er konnte sich bis ins Extreme steigern: Verhaltensauffällige randständige Frauen erfuhren bittere Repression – der Vorgang ist als «Hexenverfolgung» in den Geschichtsbüchern verzeichnet. Die Menschen hatten zu kämpfen mit den Folgen des Dreissigjährigen Krieges (1618–1648) oder auch mit Klimaveränderungen nach der sogenannten «kleinen Eiszeit» (1570–1630).
Welche Wirkung hatte das auf das 18. Jahrhundert?Das 18. Jahrhundert war eine Zeit der Neuorientierung. Das grosse Stichwort heisst «Aufklärung». Der Mensch soll sein individuelles Schicksal selbst in die Hand nehmen und es nicht als historisch gegeben hinnehmen. Aus dem Untertan muss ein eigenverantwortlicher, freier Mensch werden.
Können Sie uns einige Stichworte zur Aufklärung geben?Die Vordenker der Aufklärung verlangten den Gebrauch der Vernunft und setzten auf Eigenverantwortung: Jede und jeder ist das, was sie oder er aus sich gemacht hat. Alle sind prinzipiell gleich. Seine eigene Position in der Gesellschaft muss man sich erschaffen, sie wird nicht mehr ererbt. Voraussetzung dafür ist Bildung, deshalb lautet die Forderung: Schulbesuch ist für alle verpflichtend und unentgeltlich. Aus der Freiheit folgt die Toleranz, die auch das religiöse Leben betrifft: Unterschiedliche konfessionelle Ausrichtungen müssen nebeneinander bestehen. Das Deutungsmonopol der konfessionellen Kirchen ist in Frage gestellt.
Mit welchen Folgen?In der Gesellschaft kam es zu einer Polarisierung: Die einen waren von der neuen Denkweise begeistert und erkannten Chancen für sich. Die anderen sahen ihre angestammte Lebensweise, ihre Position und ihren Besitz in Gefahr und fürchteten, den Lebensunterhalt nicht mehr bestreiten zu können.
Die katholische Kirche reagierte mit der «aufgeklärten Reform». Was ist damit gemeint?Die genannte Polarisierung zeigte sich auch innerhalb der Kirchen: Die eine Seite wollte auch das kirchliche Leben nach Kriterien der Vernunft erneuern, die andere Seite war nicht damit einverstanden, dass Gebetsformen, die den Menschen besonders am Herzen lagen, einfach zum Verschwinden gebracht wurden.
Können Sie Beispiele nennen?Mehrtägige Wallfahrten waren beliebt in einer Zeit, in der es noch keine Ferien gab und in der lediglich Angehörige der «upper class» zu ihrem Vergnügen reisen konnten. Daher kam es zu Protesten der Basis, als aufgeklärte Landesherren und Bischöfe die Wallfahrten aus wirtschaftlichen Überlegungen per Dekret generell auf einen Tag beschränkten. Auch die Dauer von Gottesdiensten wurde an einigen Orten amtlich reguliert. So ist es zu erklären, dass Mozart 1774 im Dienst des aufgeklärten Erzbischofs von Salzburg eine «Missa brevis» – also kurze Messe – komponierte.
Wer setzte die Reformen durch?Zahlreiche Bischöfe, Adlige und einflussreiche Bürger trugen die Gedanken der Aufklärung mit. Kirchliche und geistliche Obrigkeiten wirkten Hand in Hand. Die aufgeklärte Reform war eine elitäre, von oben nach unten verlaufende Bewegung.
Wer waren die Gegner?Widerstand kam aus der ländlichen Bevölkerung, welche die Streichung von Feiertagen und Wallfahrten nicht hinnehmen wollte. Oft beging man sie trotz Aufhebungsdekreten und Verboten. Im Extremfall kam es zu Schlägereien, wenn die einen mit Kreuz und Fahnen loszogen und auf ihre Gegner mit Schlagstöcken stiessen – fast schon eine Hooligan-Szene. Anderseits gab es auch Klöster, die sich – je nach Politik des betreffenden Abtes – den Reformen widersetzten.
1789 erschütterte die Französische Revolution Frankreich. Mit welchen Folgen für die katholische Kirche?Man verdrängte die katholische Kirche in Frankreich aus ihrer gesellschaftlichen Position und entzog ihr durch Enteignungen und durch Abschaffung des Zehntabgaben-Systems die materiellen Grundlagen. Klöster wurden zu Dutzenden einfach aufgehoben – im Kanton Thurgau noch fünfzig Jahre nach der Revolution. Die Kirche in Frankreich erlitt schwere Verluste. Für Betroffene war es verheerend: Um die gleiche Wirkung zu erzielen, müsste ein Staat heute alle Pensionskassenguthaben beschlagnahmen. Damals führte die grosse Zahl an Verlierern dazu, dass die Reformen gebremst wurden. Wer gegen die Aufklärung Stimmung machte, verwies jetzt auf die Revolution und ihre schädlichen Folgen für die Religion. In Nidwalden war es 1798 ein entscheidendes Argument für den zivilen Ungehorsam gegen die Helvetische Republik und dann für den bewaffneten Widerstand gegen die französischen Truppen.
Wie sah die Situation am Schluss des Jahrhunderts aus?Es gab Sieger und Verlierer. Die einen profitierten von der neuen Ordnung, die anderen konnten mit dem Wandel nicht Schritt halten. Hatten einst die Menschen ihre Berufe und ihre gesellschaftlichen Positionen ererbt, so mussten sie sie nun selbst erschaffen. Auf der Sonnenseite befand sich, wer im Wettbewerb bestehen konnte.
Was lässt sich aus dem 18. Jahrhundert für heute ableiten?Vielleicht die Einsicht, Krisen zu relativieren. Zum Beispiel sind Menschen heute in Sorge, weil künstliche Intelligenz zahlreiche Berufe zum Verschwinden bringen wird und weil Maschinen mehr und mehr anspruchsvolle Aufgaben übernehmen. Die Erfahrung aus dem 18. Jahrhundert zeigt: Gesellschaftlicher Wandel kann grosse Chancen bieten.
Interview: Sibylle Zambon (5.9.2019)
Gelehrte trafen sich in literarischen Salons, um über neue Schriften und Ideen zu diskutieren (Gabriel Lemonnier, 1812).
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Die aufgeklärte Weisheit führt als Minerva die Religionen durch das Licht der Erkenntnis zusammen (Daniel Chodowiecki, 1791).
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