Ausstellung über Flüchtlingsschicksale in St. Gallen

Im Historischen und Völkerkundemuseum wurde Anfang April die Langzeitausstellung «Flucht» eröffnet. Diese baut auf Nähe statt Distanz, will helfen, Vorurteile abzubauen und Verständnis sowie Toleranz für Flüchtlinge zu fördern.

«Stellen Sie sich vor, dass in der Schweiz nur noch Italienisch gesprochen werden darf. Der Bundesrat beschliesst, dass alle, die Deutsch sprechen und schreiben, verhaftet und in eine Umerziehungsanstalt geschickt werden. Von Freunden haben Sie bereits viel Schlimmes von dieser Einrichtung gehört; viele seien gefoltert worden und sind nie wieder zurückgekehrt. Eines Tages stürmt die Polizei während Ihrer Abwesenheit Ihre Wohnung und findet Ihre Briefe auf Deutsch. Sie haben grosse Angst, dass die Polizei zurückkommt. Wie würden Sie handeln? Wohin würden Sie flüchten?»

Diese und weitere «Was wäre wenn»-Fragen stellt seit Anfang April die Ausstellung «Flucht» im Historischen und Völkerkundemuseum in St. Gallen. Sie sind in kleinen farbigen Heften zu finden. Fluchtnotizen von fünf fiktiven Flüchtlingen unterschiedlichen Alters und Geschlechts. Die fünf Flüchtlinge begleiten die Besucherinnen und Besucher durch die interaktiven Stationen. Ganz so, als wäre man mit ihnen auf der Flucht und würde mit ihnen erleben, was sie erleben. So erzählt die 16-jährige Malaika, wie sie 2014 aufgrund des Bürgerkriegs im Südsudan nach Kenia fliehen musste, auf der Flucht vergewaltigt wurde und nun schwanger ist. Sie berichtet von ihrem Traum, eines Tages ein kleines Schneidergeschäft im Lager in Kakuma zu eröffnen und von der Realität, die sie vermutlich in eine Heirat mit einem 45-Jährigen einwilligen lässt, damit dieser sie und das Kind beschützen kann. Ihre Geschichte spiegelt die Geschichten vieler betroffener Mädchen im Südsudan wider. Mehr als die Hälfte aller weltweit Vertriebenen sind minderjährig, davon zeugen reale Zeichnungen über die traumatischen Erlebnisse von 9- bis 16-Jährigen an einer Wand.

Nicht nur eine Nachricht

Diese Perspektive rückt persönliche Betroffenheit ins Zentrum statt distanzierter medialer Berichterstattung. Bilder von überfüllten Booten, die auf der östlichen Mittelmeerroute unterwegs zu einer der griechischen Inseln oder dem Festland sind, gibt es in der Ausstellung zwar auch, direkt, wenn man den ersten Raum betritt. Doch auch hier sind die Menschen keine blosse Nachricht. Sie bekommen Gesichter, Namen und eine Stimme. Auf drei Grossleinwänden visualisiert der in Bern lebende Regisseur Mano Khalil 45 Minuten lang Stationen der Odyssee syrischer Flüchtlinge und lässt sie dabei zu Wort kommen. Er zeigt ihren täglichen Überlebenskampf, während sie auf der anstrengenden Reise zu Fuss und auf dem Wasser jegliche Hindernisse überqueren. Wie sie in internationalen Auffanglagern ausharren, vor omnipräsenten Stacheldrahtzäunen oder in ihren Heimatländern unter Olivenbäumen leben.

Hoffnung im Gepäck

Denn, so betont der syrisch-kurdische Filmemacher, der selbst flüchten musste: «Die meisten Heimatlosen sind Innenvertriebene und in ihren eigenen Ländern auf der Flucht. Darüber spricht fast niemand.» Ihm sei es wichtig gewesen, keine Splitterbomben, Blut und tote Körper zu zeigen, sondern vor allem die Hoffnung der Menschen. Diese tragen sie trotz allem Schrecklichen, was sie erleben, stets mit sich. Die Kinder, die erzählen, wie sie Menschen vor ihren Augen sterben sahen, genauso wie die alte Frau, die unter Tränen fragt, wie Gott so etwas zulassen kann. Vier Monate drehte Mano Khalil vor Ort in syrischen und kurdischen Lagern und erwarb sich so langsam das Vertrauen der Flüchtlinge. «Ohne diese freundschaftliche Basis hätten sie sich mir gegenüber niemals vor der Kamera so geöffnet», erklärt Khalil.

Die Ausstellung, die auch Einblick in das Engagement der Schweiz gibt und über das neue Asylverfahren informiert, schafft Nähe zu Flüchtlingen und Distanz zur Vorstellung, dass dieses Los immer nur andere trifft. «Letztendlich können alle Menschen, die für Freiheit kämpfen, Flüchtlinge werden», sagt Mano Khalil.

Sarah Stutte (29.4.19)


Ausstellung «Flucht»

Die viersprachige Wanderausstellung «Flucht» ist ein Gemeinschaftsprojekt von Bundesstellen wie dem EKM, dem SEM und der DEZA, aber auch des UNHCR. In St. Gallen beteiligt sich neu das Fürstentum Liechtenstein daran. Bisher wurde sie erfolgreich in Zürich, Aarau, Bern sowie Luzern gezeigt. In St. Gallen findet sie ihren Abschluss. Speziell ist hier, dass «Flucht» durch ein breites Rahmenangebot mit zahlreichen Gesprächspartnern aus der Ostschweiz abgestützt wird. Auch für Schulklassen ist man mit extra ausgebildeten externen Führerinnen und Führern gewappnet. Sie läuft noch bis zum 5. Januar 2020 im Historischen und Völkerkundemuseum St. Gallen.


 

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Eindrückliche Schicksalsreise, die zum Nachdenken anregt: Die Ausstellung «Flucht» in St. Gallen.

Bild: Sarah Stutte

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