Religionen und ihre Haltung zur aktiven Sterbehilfe

Die Suizidhilfe strafrechtlich zu verbieten, hält der Freiburger Theologe Markus Zimmermann, bis 2018 Präsident der Leitungsgruppe des Nationalen Forschungsprogramms 67 «Lebensende», für «nicht wegweisend». Die Bischöfe sollten sich bemühen, gesellschaftliche Vorgänge möglichst gut zu verstehen.

Sind die Sterbehilfeorganisationen Erscheinungen einer Wohlstandsgesellschaft?

Auf jeden Fall. Sie sind ein Phänomen der Hochlohnländer, daneben natürlich auch der privilegierten Oberschichten in weniger reichen Ländern. Die Palliative Care dagegen ist weitestgehend ein Phänomen der mittleren Gesellschaftsschichten. Im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms 67 «Lebensende» wurde gezeigt, dass Palliative Care für marginalisierte Gruppen der Gesellschaft wie beispielsweise Sterbende im Gefängnis nicht zur Verfügung steht. Ähnliches können wir annehmen von Menschen, die auf der Strasse leben und sterben.

Ist Palliative Care eine Geldfrage?

Palliative Care ist sowohl eine soziale Bewegung als auch eine neue medizinische Fachrichtung mit Expertenwissen. Und weil es beides ist, würde es wenig nützen, wenn wir z. B. alle 400 Spitäler in der Schweiz mit Palliative Care ausrüsten würden.

Das würde nicht bewirken, dass die Bevölkerung und auch die in der Gesundheitsversorgung tätigen Berufsgruppen anders denken würden. Was aber auch gilt: Solange kein oder kaum Geld für die Palliative Care vorhanden ist, ist das auch ein Symptom für den mangelnden politischen Willen, dieses Konzept tatsächlich nachhaltig einzuführen.

Was können Kirchen oder Religionsgemeinschaften tun, um ihre Position – die Ablehnung der aktiven Sterbehilfe – zu verdeutlichen?

Es wäre sinnvoll, wenn sich alle kundig machen würden über das, was heute bereits passiert, etwa durch eine aktive Beteiligung bei der «Nationalen Plattform Palliative Care» sowie bei den Veranstaltungen der Fachgesellschaft «palliative ch». Es ist wichtig, dass die Kirchen und Vertreter aller interessierten Religionsgemeinschaften wissen, was geschieht, um sich dann zum rechten Zeitpunkt mit eigenen Kräften ein- bringen zu können und Hilfe anzubieten. Das gilt für die katholische Kirche Schweiz auf allen Ebenen: Bischöfe und ihre Kommissionen, Spitalseelsorge, Kirchgemeinden und einzelne Kirchenmitglieder.

Wie würden Sie jemandem Palliative Care schmackhaft machen?

Ich würde versuchen, das Gespräch auf die Frage zu lenken, wie mein Gesprächspartner oder meine Gesprächspartnerin sich persönlich ein gutes Sterben vorstellt. Dabei werden Erfahrungen wichtig, die ein Mensch beispielsweise beim Sterben eines geliebten Verwandten gemacht hat. Überdies geht es um Ängste, Werte und Ideale. Dies würde rasch dazu führen, über die Ziele von Palliative Care ins Gespräch zu kommen.

Aus christlicher Sicht ist assistierter Suizid ein «No-Go».

Die Entscheidung, dem eigenen Leben ein Ende zu setzen, ist mit dem christlichen Glauben kaum kompatibel – denkbar und nachvollziehbar wird es für mich allenfalls in extremen Einzelsituationen, wobei für mich auch dann noch Fragen offen bleiben. Wie bei vielen anderen Themen gehen die Einstellungen dazu in der Gesellschaft weit auseinander. Die Forderung der Bischofskonferenz, ein Verbot der Suizidhilfe ins Strafgesetzbuch aufzunehmen, halte ich für nicht wegweisend, auch nicht für rechtlich begründbar.

Aus welchem Grund?

Weil der Suizid eine menschliche Möglichkeit darstellt. Diesen strafrechtlich zu verfolgen, ist nicht begründbar. Ist jedoch der Suizid eine Möglichkeit, die nicht strafrechtlich verboten ist, kann auch die Beihilfe zu dieser Tat aus rechtsdogmatischen Gründen nicht unter Strafe gestellt werden. Ausser natürlich, ein Mensch wurde manipuliert oder aus egoistischen Motiven zum Suizid gedrängt. Aber das steht ja bereits seit vielen Jahrzehnten in der Schweiz unter Strafe. Meines Erachtens sollte es in den Diskussionen darum gehen, welche Ideale und Werthaltungen heute wichtiger wären. Darüber sollten wir ins Gespräch kommen.

Auch die Bischöfe?

Ja, auch sie sollten sich bemühen, gesellschaftliche Vorgänge gut zu verstehen. Wir erleben zwar heute eine massive Entkirchlichung der Gesellschaft, gleichzeitig aber auch ein zunehmendes Interesse an Sinnfragen, Spiritualität und Spiritual Care. Diese ist Teil der Palliative Care, die jedoch nicht an eine Kirche oder Glaubensgemeinschaft gebunden ist. Meines Erachtens sollten die christlichen Kirchen hier mitmachen, was sie heute auch schon tun. Ich sehe darin eine Chance, die Botschaft von der Liebe Gottes den Menschen näherzubringen.

Interview: Georges Scherrer/Red. (29.4.19)

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Viele wollen heute in ihrer Entscheidung frei sein, sind aber dankbar für die Möglichkeit einer ernsthaften Auseinandersetzung.

Bild: unsplash.com/Timon Studler

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