Wie ältere Menschen die Corona-Krise erleben
Wir sind die Risikogruppe, die daheimbleiben soll. Wir dürfen unsere Kinder und Enkel nicht sehen. Wir sind die, die man mit unschätzbaren Kosten schützen muss, schützen will. Wie fühlt sich das an?
Ich gehöre dazu: 67 Jahre alt, eine Vorerkrankung. Ich habe das AHV-Alter erreicht, bin nicht mehr jung. Aber Risikogruppe? Vor Kurzem gehörte ich zu den «Golden Agern», den Menschen im «3. Lebensabschnitt», den fitten älteren Menschen in modischer Kleidung, die Enkel hüten, Angehörige pflegen, reisen und Freiwilligen-Organisationen am Laufen halten. Jetzt bin ich Risikogruppe. Zwar werden langsam die Restriktionen gelockert – aber für Menschen wie mich wird es noch dauern. Wann ich wieder selbst einkaufen, meine Enkelkinder sehen, einen Gottesdienst oder ein Konzert besuchen kann – alles ungewiss. Ich halte mich an die Restriktionen. Eine Freiwillige geht für uns einkaufen – ich pflege meine hochdemente, 93 Jahre alte Mutter und meinen schwerkranken Sohn. Nur mit diesen beiden gehe ich auf Tuchfühlung. Mit meiner Mutter gehe ich einige Schritte in den Apfelplantagen. Ich schütze mich selbst und andere.
Vergessen gegangenDer Staat, der mir so fürsorglich begegnet, lässt mich aber auch im Stich: Viele pflegende Angehörige gehören selbst zur Risikogruppe. Die Entlastung via Pro Senectute, Tagesaufenthalt etc. fällt weg oder ist ausgedünnt, weil die freiwilligen Helfer*innen älter und damit ebenfalls gefährdet sind. An Schutzkleidung zu kommen ist eine Herkules-Aufgabe: Wir 500'000 Betreuende stehen auf keiner Liste, kommen in keiner Pressekonferenz vor! Und: Was geschieht mit unseren Angehörigen, wenn wir in Quarantäne müssen, krank werden?
Auch Jüngere kann es treffenDazu kommen manchmal Aggressionen. Ich selbst wurde massiv verbal vor der Apotheke angegriffen, als ich mit dem gebotenen Abstand wartete. Leute wie ich würden anderen den Tod bringen, ich solle daheimbleiben. Alle in der Reihe schwiegen; es war ein erschreckendes Gefühl. Danach habe ich mich noch mehr zurückgezogen. Auch auf Social Media zeigt sich teilweise Hass auf die Älteren. Dabei geht vergessen, dass es auch Jüngere in der Risikogruppe gibt wie meinen Sohn: Anfang 40 und schwer krank. Ich bin fast die einzige Person, die ihn besucht. Seine Schwester und Freunde bleiben notgedrungen aussen vor, sind oft auch intensiv mit eigenen Sorgen beschäftigt. Einsamkeit macht Seele und Körper krank. Die Bilder der Patienten in Pflegheimen, die ohne Besuch auskommen müssen, sind erschreckend. Meine Mutter fürchtet, dass wir nicht genug Nahrungsmittel bekommen. Sie lebt oft in ihren Kriegserinnerungen. Es gibt zwar viele Therapie- und Seelsorgeangebote per Internet und Telefon, aber nicht alle haben Zugang dazu.
Sich in Geduld übenDie Ungewissheit über die Entwicklung der Restriktionen nagt manchmal an mir. Ich werde ungeduldig, obwohl ich das Ganze verstehe und mit dem Kopf unterstütze. Aber meine Emotionen folgen nicht immer. Da ist viel Ambivalenz. Ich muss mein Leben gehen lassen – auf neue Wege, in neue Erfahrungen. Viele Sicherheiten sind gerade zusammengebrochen. Wie es wirklich weitergeht, wissen wir nicht. Unser Leben, das unserer Kinder und Enkel, der Nahestehenden, unserer Gesellschaft und der ganzen Welt müssen wir ins Unbekannte gehen lassen. Volles Risiko. Wir tasten und warten. «Draussen» kämpfen viele ums Überleben. Unser Beitrag ist die Geduld, das Verständnis. Wir sind dankbar für Unterstützung. Wir stehen nicht im Weg, machen keinen Aufstand wegen der Verzichte. Bücher sind mir eine grosse Hilfe – die Büchertürme neben dem Bett wachsen.
Die Reise nach innenUnser Innen-Leben meldet sich jetzt. Da kommen wichtige Fragen: Wie gehe ich mit dem Alter, den Einschränkungen, der letzten Lebensphase um? Angesichts Corona – welche Pflege nehme ich wann noch in Anspruch? Sind mein Vorsorgeauftrag, mein Testament und meine Patientenverfügung à jour? Welche Beziehungen müssen überholt werden? Es ist schwieriger, an stillen Tagen den entscheidenden Fragen auszuweichen. Man kann ihnen nicht davonlaufen. Wir üben uns in Vertrauen. Dabei ist mir dieses Gedicht von Michael Francis «Dei-Anang» ein Begleiter:
Glaube ist ein Baum. / Er wächst /
in der Wüste. /
Glaube lebt / in der Hoffnung /
– vergeblich zuweilen – /
dass Gott den Regen schickt.
Glauben ist zärtliches Vertrauen /
vergeblich zuweilen.
Christiane Faschon (26.05.20)
Kommentare