Leserbrief zum Artikel «Weglaufen ist keine Lösung» in der Ausgabe 20/2023
Die beiden Interviews mit Felix Gmür (forumKirche Nr. 18 und Nr. 20) können nicht unkommentiert hingenommen werden.
Gemäss Definition von Wikipedia ist der Bischof (von altgriechisch ἐπίσκοπος epískopos) Aufseher, Hüter, Schützer in den christlichen Kirchen und Inhaber eines Leitungsamtes geistlicher und administrativer Art. Als ‘Aufseher’ ist er folglich auch verantwortlich für das, was seine Mitarbeiter tun. Die Aufarbeitung der Missbrauchsfälle sollte seit Jahrzehnten Chefsache sein. Im Interview in Nr. 18 versteckt sich Felix Gmür aber hinter dem Voruntersuchungsrichter und schiebt ihm zu grossen Teilen die Schuld zu. Von einem guten Chef wird erwartet, dass er sich vor seine Angestellten stellt und die Verantwortung auf sich nimmt und klar bekennt, dass er seine Aufsicht nicht wahrgenommen, bzw. verletzt hat und dafür die Konsequenzen trägt. Von einem Hüter und Schützer ist Felix Gmür weit entfernt.
Im Interview in der Nr. 20 kommt es dann knüppeldick. Seit über 20 Jahren wird intensiv auf die Missbräuche in der Katholischen Kirche aufmerksam gemacht. 20 Jahre lang haben die Bischöfe wenig unternommen, sich den schrecklichen Tatsachen zu stellen und sich sofort der Wiedergutmachung zu widmen. Und nun versteckt sich Felix Gmür sogar hinter den Gesetzen (z.B. Kirchengesetz). Ja, er hat das Kirchengesetz erfüllt und ist somit nicht schuldig. Daher kann er auch ruhig sagen «ich bin kein Angeklagter». Aber als Bischof sollte er eigentlich wissen, dass er genau mit der Erfüllung des weltlichen Gesetzes (Kirchengesetz etc.) vor dem messianischen Projekt der Frohen Botschaft (Paulus) schuldig wird. Ist sich Felix Gmür (und die ganze kirchliche Institution) bewusst, dass sie das Projekt der Frohen Botschaft in den Dienst der Kirche und nicht die Kirche in den Dienst dieses Projektes stellen? Es ist an der Zeit, dass die Institution einsieht, dass ihre Weisheit der Welt (z.B. das Kirchengesetz) ver-rückt ist – wie Paulus sagt - und dass sie erkennt, dass die Verückt-heit der Weisheit Gottes das Projekt der Frohen Botschaft ist.
Vielleicht erkennt dann Felix Gmür, dass für ihn bis heute die Missbrauchsopfer Objekte sind, Objekte des Gesetzes. Die Missbrauchsopfer sollten aber Subjekt sein, so wie es die Weisheit Gottes vorsieht. «Der Raum aller Handlungen, die mit der Normenerfüllung des Gesetzes vereinbar sind, wird beschränkt auf diejenigen möglichen Handlungen, die mit der Nächstenliebe vereinbar sind» (J. Hinkelammert, Der Fluch, der auf dem Gesetz lastet). Das Leben des Nächsten entscheidet darüber, welche Handlungen als gerecht angesehen werden können. Das ist für Urs Eigenmann ist das Reich-Gottes-Verträglichkeitskriterium. Dieses Kriterium gilt für alle und dieses Kriterium sollte sich auch Felix Gmür und die ganze kirchliche Institution zu Herzen nehmen.
Es ist zu hoffen, dass die Weltsynode das imperial-kolonisierende Christentum wieder in das prophetisch-messianische Christentum zurückverwandeln kann und dem Projekt der Frohen Botschaft wieder Auftrieb gibt in einer Welt, die zu zerbrechen droht. Leider lässt der ‘Brief an das Volk Gottes’ vom 25. Oktober 2023 wenig Raum für das Projekt der Frohen Botschaft erahnen.
Rainer Naeff-Ludin, Diessenhofen