Corona-Verarbeitung in Gesellschaft und Kirche
Am 18. November findet im Ulrichshaus in Kreuzlingen eine Fokus-Veranstaltung zum Thema «Corona – Hausaufgaben einer Pandemie» statt. Der Referent, Dr. André Böhning, katholischer Theologe und Systemischer Therapeut in der Psychiatrie St. Gallen Nord, spricht im Interview über die psychosozialen Probleme der Corona-Pandemie und worin die Aufgabe der Kirche in dieser Krise besteht.
Welche psychologischen Auswirkungen hat Corona auf das Leben der Menschen?Bezüglich psychiatrischer Krankheitsbilder gibt es noch wenig verlässliche Daten. Man geht davon aus, dass sowohl Depressionen, aber auch Angststörungen zugenommen haben. Aber es gibt eine Reihe psychosozialer Belastungen: Die Angst vor finanziellen Einbussen oder dem Arbeitsplatzverlust, die Zunahme innerfamiliärer Spannungen wegen räumlicher Enge und häuslicher Gewalt, das stark gewachsene Konsumverhalten bei digitalen Medien, Spielen und Online-Käufen. Auch die Besuchsverbote in Spitälern oder Heimeinrichtungen und damit die Trennung von Generationen ist emotional sehr schwierig. Im Grenzgebiet konnten sich Paare teils nicht besuchen, weil der eine Teil jenseits der Landesgrenze wohnte. Ein kleines Kind durfte ebenfalls nicht über die Grenze zu seinen Eltern zurück und musste länger bei den Verwandten bleiben. Kinder dürfen zudem ihre Grosseltern nicht besuchen. Infizierte Sterbende erhielten keine Begleitung durch ihre Angehörigen. Die Liste ist damit nicht zu Ende.
Wie haben sich diese Folgen im Verlauf der Krise verändert?Am Anfang war die grosse Solidarität! Es gab eine grosse Welle der gegenseitigen Unterstützung. Menschen, die die Wohnung nicht verlassen wollten oder durften, wurden nicht vergessen. Andere gingen für sie einkaufen. Die Menschen hielten sich weitgehend diszipliniert an die Regeln. Soziale Kontakte wurden über digitale Medien gepflegt. Ältere Menschen waren zum technischen Fortschritt gezwungen, sich wohl oder übel mit einem Smartphone oder digitalen Kommunikationsformen zu beschäftigen. Psychisch kamen sie nach breiter Einschätzung mit der Quarantäne besser zurecht als jüngere. Mit der wärmeren Jahreszeit und den Lockerungen folgte nun in der zweiten Welle eine gewisse Disziplin-Ermüdung im Einhalten der Regeln. Jetzt ist es eine Herausforderung zu schauen, wie man einen zweiten vollständigen Lockdown und Grenzschliessungen verhindern kann. Die psychosozialen Spannungen werden daher wieder an Bedeutung gewinnen.
Werden die kritischen Stimmen momentan stärker?Es gibt eine gewisse Blüte an Verschwörungstheorien, die jeweils als Erklärungen des für manche Unerklärlichen dienen. Es gab kürzlich in Kreuzlingen und Konstanz Demonstrationen von sogenannten Coronaleugnern und Befürwortern der Schutzmassnahmen. Sie sind nun besser organisiert. Mit Argumenten war da nicht viel zu machen. Ich beobachte eine gewisse Rebellion angesichts des Umstands, dass es keine Einsicht in die Logik gewisser politischer Entscheidungen gibt. Wenn Regeln uneinheitlich sind, gibt es logischerweise Diskussionen. «Warum dürfen die das und wir nicht?» In all diesen Debatten zeigen sich existentielle Bedürfnisse, aber auch ein tiefes gesellschaftliches Gerechtigkeitsempfinden.
Von der Grundstruktur einer Pandemie ausgehend sind diese Reaktionen eher typisch. Sie entsprechen dem, was man in der Fachliteratur findet und teils vorhergesagt wurde. Nichtsdestotrotz muss man damit politisch, medizinisch-sozial und kirchlich umgehen. Fakt ist, dass in einer Krise oder Pandemie wie dieser, die noch keiner durchgemacht hat, Fehlentscheidungen von Politikern und Krisenstabsleitern getroffen werden, unabsichtlich. Der Wissenszuwachs zwischen Frühjahr und Herbst ist enorm. Mir fehlt manchmal die Haltung, dass aktuell Fehler aus unabsichtlicher Unkenntnis gemacht wurden und dies normal ist.
In unserer Klinik litten viele Patienten unter dem Besuchsverbot. Einige wenige waren froh, dass sie jetzt mal eine verordnete Ruhe von ihren Angehörigen haben. Aber zurückgeworfen auf die eigene Gruppe und sich selbst wuchsen hier und da die Spannungen in den Heimeinrichtungen. Wenn man sich teils kaum selbst aushalten kann, ist es schwer, wenn noch ein anderer dazu kommt. Depressionen und Angststörungen haben leicht zugenommen. Wenn jemand im Vorfeld der Pandemie schon mit Depressionen Angststörungen zu kämpfen hatte, dann könnte dies zu einem gesteigerten Rückzugsverhalten führen. Deshalb ist es wichtig, dass das soziale, sozialpsychiatrische Netz entsprechend funktioniert und mobile Angebote in der Gesundheitsversorgung ausgebaut werden.
Können sich Kinder schneller an die neue Normalität anpassen als ältere Menschen?Insgesamt seien ältere Menschen leichter durch den Lockdown gekommen als jüngere, heisst es immer wieder. Gesamtgesellschaftlich gab es jedoch von allen Generationen einen enormen Anpassungsprozess und es haben sich – bei Kindern wie auch bei Erwachsenen –neue Verhaltensformen etabliert.
Was kann man tun, um die soziale Isolation für sich selbst erträglicher zu machen?Man sollte trotzdem seine Kontakte pflegen, ob per Telefon oder Digital. Aus dem Haus gehen kann man immer noch, nach Möglichkeit alleine oder zu zweit. Hilfreich ist, den Tag auf jeden Fall zu strukturieren, beispielsweise nach dem bio-psycho-sozialen-spirituellen Modell: Was tut meinem Körper gut, was meiner Seele, wie kann ich meine soziale Seite pflegen und wie meine innerlich-spirituelle? Bezogen auf die körperliche Gesundheit sollte man sich weiterhin gut ernähren und, wenn man nicht mehr selbst einkaufen kann, den Einkauf delegieren. Darin liegt beispielsweise auch Potenzial für die kirchliche Jugendarbeit.
Was bedeutet die Pandemie für die Kirche?Das kirchliche Leben leidet unter der Pandemie. Eine reduzierte Anzahl an Personen kann am Gottesdienst teilnehmen, wenn dieser überhaupt stattfindet. Treffen von Gruppen dürfen, wenn überhaupt nur unter bestimmten Auflagen stattfinden. Die Revitalisierung wird dauern. Auf der anderen Seite hörte man auch Kritik, dass von kirchlicher Seite zu wenig auf Seelsorge in den Heimen gedrängt wurde und man sich zu leicht aussperren liess. Das Paradox, sich einerseits an die verordneten Massnahmen halten zu müssen, andererseits den Nöten von Menschen seelsorgerisch gerecht zu werden, scheint mir auch auf pastoraler Seite noch nicht gelöst zu sein. In der Auswertung der Nutzung digitaler Gottesdienstformate sehe ich eine Chance, um zu eruieren, ob und wie diese in Zukunft weiterbestehen können, um das geistliche Leben auch zu Hause zu pflegen. Die Pandemie zeigt zudem, was wirklich wichtig im Leben ist.
Welche Aufgabe hat die Kirche in dieser Krise?Mein Grundcredo ist immer: Lasst Menschen in Krankheit und Not nicht allein. Deshalb ist es wichtig, gerade in dieser Zeit die diakonische Arbeit zu stärken. Kirche hat die Aufgabe auch in spiritueller Weise aufzuzeigen, dass es solche Krisen schon in der Vergangenheit gab und man sie im Glauben tragen konnte. Das kirchliche Potenzial liegt darin, zu erkennen, was uns kostbar ist und auf was wir problemlos verzichten können und dann zu überprüfen, inwiefern wir unsere pastoralen Strukturen anpassen müssen.
Interview: Sarah Stutte, forumKirche, 3.11.20
Kommentare