Der grosse Wandel nach der Seuche blieb aus
Im 14. Jahrhundert starben die Menschen in Massen an der «Grossen Pest», zeigten wenig Heldenmut, blieben aber auch besonnener. Historiker Volker Reinhardt hat ein Buch über diese Epoche geschrieben. Aus dessen Erkenntnissen lassen sich auch Parallelen zur heutigen Zeit ziehen.
Die Welt beschäftigt Corona. Sie haben aber Anfang des Jahres ein Buch über die «Grosse Pest» von 1347 bis 1353 herausgebracht. Warum?Zum einen aus Interesse an der Geschichte selbst, daran was sich im 14. Jahrhundert ereignete und wie die Menschen damals mit einer kolossalen Katastrophe umgegangen sind. Aber genauso spielte das aktuelle Zeitgeschehen eine Rolle. Das Buch ist im letzten Jahr, in der Zeit des ersten Lockdowns entstanden, immer auch mit einer Perspektive des Vergleichs. Nicht um gleichzusetzen, sondern um gewisse Ähnlichkeiten und auch gewichtige Unterschiede herauszuarbeiten.
Worin bestehen die Ähnlichkeiten?Die Pest von 1347 bis 1353 kam völlig unerwartet, in einer Zeit relativen Wohlstands und einer Globalisierung. Vor allem in Italien gab es Fernhandel und Grossstädte. Das waren alles sehr neue Entwicklungen für die Menschen jener Zeit, weshalb in vieler Hinsicht Optimismus herrschte – und dann kommt diese Katastrophe. Das kann man, mit aller Vorsicht und immer unter Berücksichtigung von Unterschiedlichkeiten, mit dem 21. Jahrhundert in Beziehung setzen. Auch für uns kam Corona völlig unerwartet. Das Unbekannte macht Angst und erzeugt bestimmte Verhaltensweisen, die sich mit der Zeit vor 700 Jahren vergleichen lassen.
Wie haben Sie pauschalisierende Schlussfolgerungen zu vermeiden versucht?Indem ich sehr stark differenziert habe. Die Menschen des 14. Jahrhunderts lebten völlig anders: in anderen Vorstellungswelten, aber auch in einem anderen gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Klima. Sie deuteten alles viel religiöser zentriert, glaubten, dass die Erde im Mittelpunkt des Kosmos steht und unbeweglich ist. Sie hatten eine viel niedrigere Lebenserwartung, keine 30 Jahre im Durchschnitt, zwei von drei Kindern sterben vor der Pubertät. Das alles muss man in Rechnung stellen, das heisst, jede Ähnlichkeit ist immer auch mit Variablen verbunden.
Es gibt schon viele historische Abhandlungen über die Seuche. Was wollten Sie der Thematik noch Neues hinzufügen?Man kann auch an alte Quellen neue Fragen richten. Meine waren, wie Menschen im Rückblick mit solchen tiefen Zäsuren umgehen. Mich interessieren die Kopfwelten und wie sich dieses Verhalten danach in den gesellschaftlichen sowie politischen Handlungen niederschlägt. Die Berichte, die uns über die Pest des 14. Jahrhunderts vorliegen, sind schwierige Texte, die sehr genau hinterfragt werden müssen. Man kann sie nicht einfach als Schilderung von Tatsachen verstehen. Zu häufig wurden diese Texte falsch gedeutet weil unbeachtet blieb, dass sie nach den Krisenerlebnissen geschrieben wurden. Deshalb ist das unbekannte Land das, was sich im Prozess der Verarbeitung im Seelenleben der Menschen abspielte. Um es negativ auf den Punkt zu bringen: Das einzige, was ich in diesen Quellen nie gefunden habe, war Dankbarkeit, dafür überlebt zu haben oder dass die Krise überwunden wurde. Die Reaktionen gingen überwiegend in Richtung Rachegelüste und dem Aufrechnen von Verlust und Gewinn.
Wie ging denn der*die Einzelne oder das Kollektiv damals mit dem Massensterben um?Anhand der vorliegenden Texte kristallisieren sich bestimmte Muster heraus, letztendlich weiss man aber nie sicher, ob sich ein Grossteil der Menschen wirklich so verhalten hat. Einige sind sicher frommer geworden und haben sich auf das Ende der Welt vorbereitet, andere versuchten das Leben nochmal heftig zu geniessen. Teilweise kam es zu kollektiven Handlungen. Zu nennen sind hier die berühmten Geisslerzüge, Prozessionen bei denen teilnehmende Laien blutig Busse taten und sich öffentlich zerfleischten, damit Gott die Strafe der Pest beendete. Gleiches zeigte sich auch in den schrecklichen Pogromen gegen die Juden, da Christen in ihnen die Verursacher der Pest sahen.
Wie stand es um die Solidarität und die Behandlung der Kranken?Überwiegend negativ. Die Berichte zeugen von wenig Heldenmut, sehr viel Feigheit und Elend. Die Seuche hat im Grunde die ganze Schäbigkeit des Menschen offenbart, vor allem auch der Kleriker. Sie predigten das Himmelreich und dass das irdische Leben nur ein kurzes Durchgangsstadium ist, waren dabei aber genauso ängstlich wie alle anderen. Es gibt natürlich Ausnahmen, einige Bischöfe haben sich exemplarisch mutig verhalten. Papst Clemens VI. sprach beispielsweise die Juden von der Schuld an der Seuche frei und drohte Judenverfolgern harte Strafen an. Das hat ihn bei den einfachen Leuten damals sehr unbeliebt gemacht, denn sie glaubten daran, dass es Schuldige gibt.
Führte die Abwägung zwischen rein wirtschaftlichen Interessen und politischer Verantwortung damals auch zu einer Diskrepanz?Ja, dafür gibt es ein sehr drastisches Beispiel, nämlich die Stadt Venedig. Damals die Glitzermetropole der Welt. In Venedig regierte eine Oligarchie, ein Verbund aus einigen Dutzend Familien, die die Geschicke der Republik bestimmten. Alles Grosshändler, die darauf angewiesen waren, dass die Handelswege in den östlichen Mittelmeerraum offen blieben, also das Gebiet aus dem die Pest gekommen ist. Deshalb isolierte sich Venedig sehr lange nicht und die Pest konnte sich ungehindert ausbreiten. Erst, als es zu spät war, versuchte man diese Handelswege zu kappen. Das hat vor allem den Mittelstand schwer getroffen, so dass es einige Jahre nach der Pest zu einem Staatsstreichversuch kam, um die reichen Grosshändler zu stürzen, der aber misslang. Kontrastierend dazu stand Mailand, das weitgehend von der Seuche verschont blieb, weil hier schon früh ein regelrechter Sicherheitsgürtel um die Stadt gezogen wurde, man sich rechtzeitig mit Proviant versorgte und die wenigen Kranken einmauern liess.
Was brachte diese Zeit an gesellschaftlichen Konsequenzen und Umbrüchen mit sich?Es kam zu Konflikten. Die Pest raffte vor allem arme Menschen dahin, was die zur Verfügung stehenden Arbeitskräfte schwinden liess und das Lohnniveau erhöhte. Einige Jahre nach der Pest profitierten also vor allem die kleinen Leute und die Bauern zum Nachteil der Grundbesitzer. In den Städten rückten neue Familienzweige in die Führungsriegen nach, wurden jedoch schnell wieder verdrängt. Überwiegend orientierten sich die Menschen an der Vergangenheit und beweinten die verloren gegangene Normalität. Es gab eine konservative Wende, die sich auch relativ deutlich in der Literatur und der Kunst niederschlug. Vermutlich könnte heutzutage eine ähnliche Reaktion eintreten.
Was kann man heute aus den Erfahrungen von früher lernen, welche Erkenntnisse zur Meisterung der aktuellen Krise gewinnen?Erst einmal die positive Erkenntnis, dass heute viel mehr möglich ist. Die Medizin hat unendliche Fortschritte gemacht. Wir haben ganz andere Handlungschancen. Die Pest war ein Vielfaches schlimmer als Corona, vermutlich starb jeder vierte Mensch in dieser Zeit daran. Trotzdem gab es damals auch besonnene und pragmatische Reaktionen im Umgang damit. Ähnliches hätte man sich in den letzten zwei Jahren gewünscht – etwas weniger Hysterie und mehr Demut. Gerade in den Medien waren oft Schreckensszenarien zu hören und einige Massnahmen, die ergriffen wurden, können sicher zu Recht hinterfragt werden. Zudem wäre mancher Experte sicher gut beraten gewesen, öfter einmal zuzugeben, dass er es selbst auch nicht besser weiss.
Interview: Sarah Stutte, forumKirche, 2.9.21
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