Lernen von Menschen mit Beeinträchtigungen
Vor zehn Jahren trat die Behindertenrechtskonvention der UNO in der Schweiz in Kraft. Wie aber steht es um Inklusion von Menschen mit Beeinträchtigungen in unserer Gesellschaft? Und wie sähe eine inklusive Kirche aus?
«Eine blinde Frau legte ihre Hände auf meinen Kopf. Dies hat mich mehr geprägt als zehn Segen vom Papst», erklärte Joseph Maria Bonnemain, Bischof von Chur, in einem Interview der Obwaldner Zeitung im letzten Dezember. Die erwähnte Segnung, die Bonnemain so geprägt hat, fand im Rahmen einer Pilgerreise des Taubblinden Kultur Forums nach Lourdes statt. Die Gefühle von Bischof Bonnemain sind ein gutes Beispiel dafür, was Inklusion von Menschen mit Beeinträchtigungen vermag: Sie kann eine Schatzkiste mit Dingen öffnen, die wir von ihnen lernen können. Zum Beispiel Authentizität.
Die Aussage von Bischof Bonnemain ist zwar schön. Aber Inclusion Handicap, der Dachverband der Schweizer Behindertenorganisationen, kritisiert die Schweiz für ihren Umgang mit Menschen mit Beeinträchtigungen. Zwar hat diese die Behindertenkonvention der UNO unterzeichnet, das Zusatzprotokoll jedoch nicht. Dieses würde es Menschen mit Beeinträchtigungen erlauben, Beschwerden über Verletzungen ihrer Rechte direkt vor den entsprechenden UN-Ausschuss zu bringen. Inclusion Handicap hat nun vor eineinhalb Jahren eine Petition eingereicht mit der Forderung, die Unterzeichnung des Zusatzprotokolls unverzüglich in die Wege zu leiten.
Gelebtes Angenommensein
Durch seine Tätigkeit bei SeelsorgePlus für beeinträchtigte Menschen und deren Angehörige im Thurgau und in St. Gallen kommt Diakon Andreas Barth mit entsprechenden Organisationen und Ämtern in Berührung. Er nimmt dabei Unterschiede in den Kantonen wahr. «Es ist aber allgemein notwendig, in den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen dem Recht auf Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung konkreten Ausdruck zu verleihen», so sein Credo. So gebe es beispielsweise bezüglich der Tätigkeit im ersten Arbeitsmarkt gelungene Beispiele. Dennoch bleibe hier noch viel zu tun, gerade bei Lohn- und Rentenfragen. Eine Unterzeichnung des Zusatzprotokolls könnte Menschen mit Beeinträchtigungen dabei unterstützen, Zugänge zur Gesellschaft zu bekommen, die ihnen das Leben erleichtern. «Ebenso braucht es eine andere Herzenskultur», betont Barth. Es gebe bis heute Vorurteile – auch in der Kirche. «Ein Hauptbedürfnis von Menschen mit Beeinträchtigungen ist, dass sie aus der Isolation kommen. Es geht um ein selbstverständliches Miteinander – alle anzunehmen und zumindest verstehen zu wollen.»
Radikaler Respekt vor dem Gegenüber
Barth möchte mit dem Fachbereich SeelsorgePlus Gleichwertigkeit spürbar machen und Verbindungen schaffen. Dafür hat er einige Werkzeuge zur Hand. Die einen sind im Umgang mit Menschen mit Beeinträchtigungen bereits ziemlich verbreitet, wie beispielsweise leichte und einfache oder auch bildgestützte Sprache sowie die Gebärdensprache. Letztere fasziniert Andreas Barth, und er lädt bei Anlässen Menschen dazu ein, gemeinsam Liedverse zu gebärden. «Auch hörende Menschen können darin den ganzheitlichen Charakter dieser Kommunikation spüren», erklärt er.
Vor Kurzem hat er zudem die Leitlinien für den interreligiösen Dialog von Dr. Doris Strahm entdeckt. Barth setzt diese ebenfalls im Umgang mit Menschen mit Beeinträchtigungen ein. Strahm postuliert in den Leitlinien unter anderem radikalen Respekt vor dem Gegenüber oder dass man die Haltung eines*einer Lernenden einnimmt und die Perspektive wechselt. Ein weiteres Instrument zur Umsetzung der Gleichwertigkeit ist ein Selbsttest, den Barth Pfarreien zur Verfügung stellt. Damit können sie den Grad ihrer Inklusivität überprüfen.
Bunte, einfache Feiern des Lebens
Beim Thema gelebte Inklusion bleibt noch ein weites Feld offen, für das es viel Empathie und Kreativität braucht. Zum Beispiel bei der Gestaltung von Gottesdiensten oder anderen Ritualen, bei denen sich unterschiedlich beeinträchtigte Menschen einbezogen fühlen. Barth macht Gottesdienste zu «Feiern des Lebens», wobei er speziell auf die Atmosphäre achtet und darauf, dass Verbindung entsteht; die Feiern fallen bunt und einfach aus. «Manchmal gehe ich mit dem Wassersprüher durch die Reihen der Teilnehmenden, um das Thema verbindendes Wasser greifbar zu machen, oder ich baue einen mobilen, elektrisch betriebenen Brunnen auf.» Alternativ arbeitet er mit Stoffbändern, sodass für alle Verbundenheit ertast- und fassbar wird. Auch Öl setzt er bei seinen Feiern gerne ein, weil es spür- und riechbar ist.
Regelmässig sind Tiere bei den besinnlichen Begegnungen dabei; nicht nur, weil ihnen unsere Unterteilung in «normal» und «behindert» völlig unbekannt ist und weil sie feine Instinkte für die Atmosphäre haben. «Sie sind zudem lebendige Katalysatoren für das Emotionszentrum», beschreibt es der Seelsorger. «Man spürt, wie sich die Muskeln der Teilnehmenden entspannen und ihre Augen strahlen, wenn Tiere mitwirken.»
Ikone zur Erstkommunion
Im Rahmen von SeelsorgePlus ist Barth oft mit persönlichen Anliegen konfrontiert. So ist eine gläubige, katholische Familie traurig, weil eines ihrer Mitglieder, ein autistischer junger Mensch, die Erstkommunion im Kindesalter nicht erleben durfte. Andreas Barth möchte diese ermöglichen und auch, dass für den jungen Menschen spürbar wird, was sie bedeutet. Und er will ein Zeichen setzen für dessen Würde vor Gott und für dessen Begabungen. Dafür liess er von einer Spezialistin ein Bild malen im Stil der koptischen Ikone von Christus mit Abbas Menas, auch «Christus und sein Freund» genannt. Dieses gilt als Juwel der Ikonografie. Das Original stammt aus dem 8. Jahrhundert, wurde im ägyptischen Bawit gefunden und hängt heute im Louvre. Auf dem Bild ist anstelle des Abbas Menas der Teenager mit einem Tongefäss in der Hand dargestellt, weil Töpfern seine Stärke ist. Die Ikone ist nur der Anfang von Überlegungen des Seelsorgers zum spürbaren Erlebnis der Erstkommunion für diesen und andere Menschen. In der Hauptsache beschäftigt er sich mit der Frage, wie der junge Mensch Verbundenheit wahrnehmen kann, und entwickelt gemeinsam mit der Familie einen gangbaren Weg.
Inklusives Taubblinden Kultur Forum
Ein Modell für eine inklusive Gesellschaft ist das Taubblinden Kultur Forum (tbkf), das im Thurgau ansässig ist. Vom Namen soll man sich nicht täuschen lassen: «Bei uns dürfen nicht nur Taubblinde mitmachen», sagt Lotti Blum schmunzelnd, die 80-jährige Gründerin und Präsidentin des Vereins. «Wir sind sehr inklusiv.» Jeder hilft jedem: Wer noch sieht oder hört, übersetzt bei Anlässen den Taubblinden lormend in die Hand, während andere in die Gebärdensprache übertragen. Die starke Inklusion hat sich durch einen natürlichen Prozess ergeben: Während des 19-jährigen Bestehens des Forums begannen Helfer altershalber schwerhörig zu werden oder kamen in den Rollstuhl. «Aber wer einmal bei Lotti dabei ist, bleibt bei ihr», meint die tbkf-Helferin Sonja Eberle aus Schaffhausen lächelnd. Sie und ihr Mann Konrad haben allerdings das Glück, selbst körperlich noch topfit zu sein. Sie betreuen im Rahmen des tbkf eine Frau aus Basel, die auf einem Auge über einen ganz minimen Sehrest und dank eines Implantats wieder über etwas Hörvermögen verfügt. Die Frau kann allein leben, weil ihre Mutter, ihre Schwester und ihr Schwager ganz in ihrer Nähe wohnen. «Auch technische Hilfsmittel verschaffen ihr Selbständigkeit», beschreiben es die Eberles. «Aber das Wichtigste sind für sie Kontakte.» Bei den Begegnungen kann sie sich wünschen, was sie mit ihnen unternehmen möchte. Allein kann sie aufgrund von Gleichgewichtsproblemen das Haus nicht verlassen, daher lebt sie zum grossen Teil in Isolation. Seit zwei Jahren hat die Frau einen Computer und kann über E-Mail mit Bekannten in Kontakt treten.
Geistige Berührung durch körperliche Berührung
Organisationen wie das Taubblinden Kultur Forum schaffen Verbindungen und sind Garanten dafür, dass die Absichten auf beiden Seiten gut sind. «Es braucht im Umgang mit Menschen mit Beeinträchtigungen Vertrautheit, denn beiderseits ist eine Scheu da», erklärt Konrad Eberle. «Bei Taubblinden kommt man ums Anfassen nicht herum. Durch behutsame, körperliche Berührung kommt es zu einer geistigen Berührung. Diese führt zu Vertrautheit.» Und das ist eine Möglichkeit, wie sich die Schatzkiste mit den Dingen öffnen kann, die uns Menschen mit Beeinträchtigungen zu geben haben: Es war diese Frau aus Basel, die Bischof Bonnemain in Lourdes gesegnet hatte.
Anja Eigenmann, 25.04.2024
Die Behindertenrechtskonvention (BRK) der UNO
Die BRK der UNO, von der Schweiz 2014 ratifiziert, verpflichtet zum Schutz vor Diskriminierung und zur Förderung der Inklusion und Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen. Sie betont die Vielfalt der Menschen. Ein Fakultativprotokoll ermöglicht es Personen mit Behinderungen, Beschwerden einzureichen. Die Schweiz hat das Zusatzprotokoll nicht unterzeichnet.
Anlässlich des 10-Jahre-Jubiläums der BRK finden in der ganzen Schweiz Veranstaltungen statt.
Kirchliche Veranstaltungen zur BRK mit SeelsorgePlus
• 19.5.: PfingstVesper inklusiv mit dem Taubblinden Kultur Forum, Kathedrale St. Gallen
• 1.6.: Segen inklusiv mit Clownin Peppina Polenta und Musiker Meinrad Rieser; Kirche St. Mangen, St. Gallen
• 7.6.: Inklusiver Singtag mit Jochen Straub von Limburg; HPV Rorschach, Kantine Produktionszentrum, Rorschach
• 14.6.: Auf Esels Spur – das Leben spüren; Aussenbereich des kath. Pfarreizentrums St. Johannes, Weinfelden
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