Christen der Ninive-Ebene wagen einen Neuanfang
Schon bald nach dem Abzug des Islamischen Staates (IS) begann man in den Dörfern und Städten der Ninive-Ebene mit dem Wiederaufbau – hier, wo das Christentum schon fast 2000 Jahre zu Hause ist. Eine Gruppe von Journalisten reiste auf Einladung des Hilfswerks Kirche in Not dorthin, um sich ein Bild über die Entwicklungen und die Situation der Menschen vor Ort zu machen.
Man fährt wie durch eine Kraterlandschaft. Der Verlauf der Strasse, wenn man noch von einer solchen sprechen mag, lässt sich nur erahnen. Links und rechts zerbombte Häuser ohne Fenster, ohne Dächer. Stahlarmierungen ragen in den Himmel. Kaum ein Mensch ist zu sehen. Wir befinden uns im historischen Teil von Mossul, am rechten Tigrisufer. Was der IS verschont hat, fiel den «Befreiungsangriffen» zum Opfer. Ein paar Strassenecken weiter pulsiert das Leben wie man es von orientalischen Städten gewohnt ist: Hupende Autos, Lastwagen, dazwischen ein Eselkarren und Menschen, die etwas verkaufen. Das Ganze spielt sich allerdings zwischen Schutthaufen, Trümmern und notdürftig reparierten Häusern und Läden ab. Zwischendurch tauchen riesige Sammel plätze für Eisen, Glas oder Möbel auf.
Kreuze aufrichtenAuf der anderen Seite des Tigris, wo die Zerstörungen weitaus geringer sind, ist Pfarrer Emmanuel Adelklo mit Helfern dabei, auf dem Gelände der zerstörten Verkündigungskirche eine neue provisorische Kirche zu errichten. Er ist der erste katholische Priester, der wieder in Mossul lebt und dort nun für sieben Kirchen verantwortlich ist. Ihm sind bisher 50 christliche Familien gefolgt.
Um 2000 lebten hier einmal mehr als 50‘000 Christen. Ihr Auszug aus der Stadt begann allerdings nicht erst mit dem IS. «Es gab immer wieder Wellen der Gewalt gegen Christen wie zum Beispiel 2004 und 2005», erzählt Adelklo. 2007 wurde ein Priester mit seinen drei Begleitern erschossen, 2008 wurde der chaldäische Erzbischof Paulos Faraj Rahho entführt und tot aufgefunden. 2014 lebten noch etwa 2‘500 christliche Familien hier, die dann vor dem IS fliehen mussten.
«Wir wollen das Kreuz wieder erhöhen», sagt der syrisch-katholische Geistliche. Und das meint er nicht nur im übertragenen Sinn. Denn der IS hatte versucht, sämtliche Kreuze in der Stadt zu zerstören. Dem Priester ist klar, dass sein Vorhaben, Kirchen und damit christliche Gemeinden in Mossul wieder aufzubauen, nicht ungefährlich ist: «Der IS ist immer noch da.» Dennoch lässt sich Adelklo davon nicht abhalten. Er ist davon überzeugt: «Der Glaube ist das Stärkste.»
Die Ninive-Ebene, die sich nördlich bis südöstlich von Mossul erstreckt, ist für das Christentum von besonderer Bedeutung. Historische Zeugnisse belegen, dass hier bereits in den ersten Jahrhunderten n. Chr. christliche Gemeinden entstanden sind, Keimzellen des neuen Glaubens, der sich von hier aus weiter verbreitete. Bis heute leben in diesem Landstrich mehrheitlich syrisch-aramäisch sprechende Christen (auch Suryoye oder Assyrer genannt). Jesiden, Kurden oder Schabak (muslimische Volksgruppe) bilden eher Minderheiten. Die Christen gehören unterschiedlichen Kirchen mit je eigenen Traditionen und Riten an: der chaldäisch-katholischen Kirche, der syrisch-katholischen Kirche und der syrisch-orthodoxen Kirche. In den letzten Jahrhunderten waren die Bewohner der Ninive-Ebene immer wieder Repressalien und Gewalt ausgesetzt und mussten ihre Heimat verlassen, zuletzt 2014, als der IS dieses Gebiet einnahm. Damals flohen einige von ihnen ins Ausland, die meisten jedoch in das nahe gelegene Erbil, der Hauptstadt der autonomen Region Kurdistan, und dessen Umland. Dort stand man innerhalb von nur wenigen Tagen vor der riesigen Herausforderung, über 100‘000 geflüchteten Menschen Unterkunft und Versorgung zu bieten. Kirche in Not leistete dabei entscheidende Unterstützung ebenso wie beim nachfolgenden Wiederaufbau, der nach Abzug des IS im Herbst 2016 anlief. Schaltstelle und Motor dieses Aufbaus ist das Niniveh Reconstruction Committee (NRC), das im Februar 2017 gegründet wurde und dem neben den drei Kirchen vor allem Finanz- und Bauexperten angehören.
ZurückgekehrtFalah Jebo (43) und Eva Sabeah (30) konnten bereits von diesem Aufbauprogramm profitieren. Sie wohnen zusammen mit ihren drei Kindern und der Familie von Falahs Bruder seit ein paar Wochen wieder in ihrem Haus in Qaraqosh, 30 Kilometer südöstlich von Mossul. Als der IS anrückte, mussten sie Hals über Kopf fliehen. Sie konnten nur das mitnehmen, was sie am Körper trugen. «Alles, was wir besessen haben, ist verbrannt», erzählt Falah. Dazu gehören auch wichtige Dokumente, wertvolle Erinnerungsstücke oder Fotos. Trotz dieses Verlustes ist die Familie glücklich, wieder in ihrem Haus wohnen zu können. Falah kann auch wieder in seinem Beruf als Metzger arbeiten. Für ihn und seine Frau war es klar, dass sie sobald wie möglich nach Qaraqosh zurückkehren würden: «Wir gehören hierher.» Auf die Frage, ob sie keine Angst hätten, dass ihnen Ähnliches nochmals widerfahre, meint Falah, den Blick strahlend nach oben gerichtet: «Gott wird helfen.»
Ungewisse ZukunftKnapp die Hälfte der Geflohenen haben es Falah und Eva gleich getan und sind in die ehemals 50‘000 Einwohner zählende, mehrheitlich von Christen bewohnte Stadt zurückgekehrt. Die entscheidenden Voraussetzungen dafür hat die lokale Abteilung des NRC geschaffen. Sie hat in nur eineinhalb Jahren 2660 beschädigte und ausgebrannte Häuser wieder bewohnbar gemacht. Dies geschah vor allem mit Spendengeldern von Kirche in Not. Etwa 4500 beschädigte Häuser warten noch auf den Wiederaufbau. Das NRC bietet Eigentümern beschädigter Häuser seine Hilfe an. Wer das Angebot annimmt, wird finanziell und fachlich unterstützt. Das Haus wird dann in zweckmässiger Weise, ohne Luxus renoviert. Im Gegenzug verpflichtet sich der Eigentümer, das Haus mindestens zwei Jahre lang nicht zu verkaufen.
Der syrisch-katholische Erzbischof von Mosul, Youhanna Boutros Moshe, der in Qaraqosh seinen Sitz hat, sorgt sich um die Zukunft der Christen in dieser Region. An vielen Orten hätten in den letzten Jahrzehnten muslemische Schabaks von Christen Land und Häuser gekauft und dadurch langsam einen demographischen Wandel herbeigeführt. Dies ist in Qaraqosh nicht mehr so leicht möglich, da jeder Christ beim Verkauf seines Hauses mit der neuen Verfassung von 2005 die Zustimmung der Kirche einholen muss. Mit dem IS kamen Vertreibung und Zerstörung hinzu. «Ich hoffe, dass alle Christen wieder nach Qaraqosh zurückkehren», sagt der Erzbischof. Er weiss aber auch, dass sich einige davor scheuen. Mangelnde Stabilität und fehlende Arbeitsplätze halten sie davon ab. Vor allem junge Leute, die in ihrem Exil Gefallen am Grossstadtleben gefunden haben, tun sich schwer, in ihre ländlich geprägte Heimat zurückzukehren.
Nur wenige Kilometer entfernt liegt die Kleinstadt Bartella. Ihre Bevölkerung besteht etwa zu drei Vierteln aus Christen und zu einem Viertel aus Schabak. Auch hier liess der IS zerstörte Kirchen und Wohnhäuser zurück. Als die ersten orthodoxen Christen zurückkehrten, begannen sie zunächst mit dem Wiederaufbau ihrer Kirche. Für Dr. Emad Al Dalakta, Mitglied des Syrian Orthodox Reconstruction Committee, ist klar: «Die Kirche ist uns wichtiger als unsere Häuser.» Sie ist Zentrum ihres Lebens, Ort ihrer Identität und ihrer Gemeinschaft. «Ihr Wiederaufbau war eine wichtige Voraussetzung dafür, dass die Menschen wieder zurückkehren», erklärt Al Dalakta. Etwa zwei Drittel der Geflüchteten haben diesen Schritt bisher gewagt.
Auch bei den Christen in Bartella werden die Landverkäufe an die Schabak und deren wachsende Zahl mit gewissem Argwohn betrachtet. Dennoch bekräftigen Al Dalakt und Yacoub Saady, der Priester der Gemeinde, dass sie ein gutes Miteinander mit den Muslimen pflegen würden, was in gemeinsamen Feiern, zum Beispiel zum Ramadan zum Ausdruck komme.
Ein funktionierendes Gemeinwesen benötigt nicht nur intakte Gebäude, sondern auch Bildung. Dieser Aufgabe haben sich die Dominikanerinnen verschrieben, die vor 2014 an verschiedenen Orten der Ninive-Ebene Kindergärten und Schulen betrieben. Sie behaupteten ihren Platz teilweise solange, bis sie von Kämpfern des IS weggeschickt wurden. Nach Abzug der Dschihadisten knüpften sie an ihre alte Berufung an und öffneten wieder einige ihrer Einrichtungen. Allerdings ist für sie das Leben und Arbeiten an einigen ihrer früheren Einsatzorte nicht mehr dasselbe wie vorher. Denn manche der dort wohnhaften Muslime haben sich nach Einmarsch des IS bereitwillig auf dessen Seite geschlagen. «Dadurch ging Vertrauen verloren. Wir versuchen aber, es wieder neu aufzubauen», sagt die Priorin. Viele Kollaborateure haben ihr Handeln später bereut. Dennoch können die Schwestern derzeit nicht nach Mossul oder Telekef zurückkehren. Die Angst und das Misstrauen sind noch zu gross.
Beistand bei TraumatisierungNeben zerstörten Gebäuden hat der IS auch viele verletzte Seelen hinterlassen. Für diesechaldäische Priester eröffnete vor zwei Jahren in Alqosh, am Rande der Ninive-Ebene, ein Trauma-Zentrum, in dem Menschendie psychischen Folgen des Terrors verarbeiten können. Ausserdem werden dort Multiplikatoren – Lehrerinnen, Sozialarbeiter usw. – geschult, wie sie im Rahmen ihrer Tätigkeit auf traumatische Verletzungen eingehen können. Das Zentrum ist einzigartig in der ganzen Region. Mit dieser Einrichtung beschreitet Hanna neue Wege im Umgang mit Trauma-Geschädigten.
Im Nachbarort Teleskuf engagiert sich Pfarrer Salar Bodagh für die Schaffung neuer Arbeitsplätze, um möglichst viele Christen wieder zur Rückkehr in das Dorf zu bewegen. Er initiierte einen Nahrungsmittelbetrieb, der Fertigprodukte produziert. Ausserdem möchte er noch in die Eiswürfel-Produktion einsteigen und ein Jugendzentrum mit Café eröffnen, in dem weitere Arbeitssuchende angestellt werden könnten.
Die Menschen, denen wir auf unserer Reise begegneten, waren überrascht und berührt, dass wir uns für ihr Schicksal interessieren. Gleichzeitig machten sie uns klar, dass sie auf die Solidarität anderer Christen angewiesen sind – sowohl materiell als auch im Gebet –, um in ihrer alten Heimat neu beginnen zu können.
Detlef Kissner
Nähere Infos: www.kirche-in-not.ch
Grafik, die den Aufbau in der Ninive-Ebene dokumentiert (Stand: Sept. 2018) Quelle: Kirche in Not
Pfarrer Emmanuel Adelklo zeigt das Kreuz der Verkündigungskirche, das der IS mit Gewalt entfernt hat.
Bilder: Detlef Kissner
Falah und Eva mit ihrer Familie vor ihrem restaurierten Haus
Die zerstörte syrisch-orthodoxe Kirche St. Efrem in Mossul, rechts auf der Säule das Zeichen des IS
Einblick in ein zerstörtes Haus in Bartella
Plakat, mit dem für die Rückkehr nach Karmles geworben wird.
Zerstörter Altar in der syrisch-orthodoxen Kirche Sarkis und Bakos (6 Jhd.) in Qaraquosh
Es brennen schon wieder Kerzen in der ausgebrannten syrisch-orthodoxen Kirche Mart Shmony in Qaraqosh.
Das Kloster Raban Hormezd bei Alqosh, das im 7. Jahrhundert gegründet wurde, blieb unversehrt, da der IS diese Gegend nicht erreichte.
Die Gründungsmitglieder des Ninive Reconstruction Committee (NRC): Timothaeus Moussa Al Shamany, Erzbischof der syrisch-orthodoxen Kirche Antiochiens, Youhanna Boutros Moshe, syrisch-katholischer Erzbischof von Mossul, Andrzej Halemba, Kirche in Not, Nicodemus Daoud Matti Sharaf, syrisch-orthodoxer Metropolit von Mossul, Kirkuk und Kurdistan, und Mikha Pola Maqdassi, chaldäisch-katholischer Bischof von Alqosh
Bild: Kirche in Not
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